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Durch Suizid Verstorbene

Die Anatomie und die »Selbstmörder«

Auch wenn die Geschichte der modernen Anatomie stark in der Vorstellungswelt der Aufklärung verwurzelt ist, lebten in ihr religiöse Moralvorstellungen noch lange fort. Am deutlichsten zeigte sich das beim Umgang mit Menschen, die ihrem Leben selbst ein Ende setzten. Wurde ihr Leichnam nicht in einer abgesonderten Friedhofsecke bestattet, stellten die Behörden diese den Anatomien zur Verfügung. Neben den Leichen Hingerichteter, unehelicher Kinder und unverheirateter Mütter waren es die Leichen der »Selbstmörder«, welche in der Frühen Neuzeit die Fortentwicklung der Anatomie ermöglichten. Diese Praxis änderte sich bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht. Während der NS-Zeit kamen bis 1943 insgesamt 119 Menschen nach Selbsttötung in das Anatomische Institut der Universität Tübingen.

Während der NS-Zeit in die Tübinger Anatomie verbrachte »Selbstmörder«

Diagramm zu den durch Suizid Verstorbenen
Anzahl der jährlich in die Anatomie verbrachten »Selbstmörder«. Eigene Darstellung.

An dieser Statistik sind zwei Punkte bemerkenswert. Zum einen bewegen sich die Zahlen der Selbsttötungen während des Krieges im gleichen Rahmen wie in den Vorkriegsjahren. Sowohl die höchsten als auch die niedrigsten Werte der jährlich in die Anatomie verbrachten Toten liegen in der ersten Hälfte der NS-Zeit. Zum andern sind aber klar zwei Phasen abgrenzbar, wobei das Jahr 1939 als Scharnier fungiert.

Ein wichtiger Unterschied liegt, genau wie bei der Gesamtgruppe aller in die Anatomie eingelieferten Toten, in der Nationalität. So lässt sich bisher für die erste Phase nur ein einziger Ausländer, der am 20. August 1939 im Alter von nur 18 Jahren verstorbene Anton Lipnik aus Polen, unter den Toten nachweisen. In den Kriegsjahren folgten dann weitere 19 polnische und sowjetische Staatsangehörige.

Alter zum Zeitpunkt des Todes

Erreichtes Lebensalter zum Zeitpunkt des Todes. Eigene Darstellung.

Blickt man auf die Verteilung des jeweils erreichten Lebensalters, zeigt sich zunächst nur ein signifikanter Unterschied. In beiden Phasen bildeten die 20- bis 40-Jährigen zusammen die größte Gruppe. Vor dem Krieg übertrafen aber die 60- bis 70-Jährigen zahlenmäßig die beiden jüngeren Gruppen, wenn man sie je einzeln als Vergleichsgrundlage heranzieht. Während des Krieges reichte die Zahl der 70-Jährigen an die Zahl der beiden jungen Kohorten heran, ohne sie zu übertreffen. Die Daten können für den Krieg noch weiter aufgeschlüsselt werden. Denn alle, die nach 1939 bei ihrem Suizid älter als 45 Jahre waren, hatten die deutsche Staatsbürgerschaft inne. Als einziger Ausländer wurde Michal Lakomiak älter als 40 Jahre. Er starb vermutlich mit 44 Jahren. Umgekehrt finden sich unter den 25 Menschen, die zum Zeitpunkt ihres Todes während der Kriegszeit jünger als 40 Jahre waren, nur sieben Deutsche.

Suizide in der NS-Zeit

Schon in ganz normalen Zeiten ist es schwierig, einen passenden Begriff für die selbstgewählte Beendigung des eigenen Lebens zu finden. Ob Suizid, Freitod, Selbsttötung oder Selbstmord– alle Begriffe meinen den finalen, individuell vollzogenen Akt. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche den Einzelnen zur Tat motivierten, werden in diesen Begriffen nicht abgebildet. Allein die unterschiedlichen moralischen Wertungen, die vor allem bei »Freitod« oder »Selbstmord« mitschwingen, verweisen auf einen gesellschaftlichen Kontext. Für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Selbsttötungen unter den Bedingungen der NS-Herrschaft ginge eine jede individualistische Sichtweise aber vollkommen fehl, wie etwa die hohe Zahl von Juden zeigt, die im Angesicht von Ausgrenzung, Verfolgung und drohender Deportation den Freitod wählten. Der Historiker Christian Goeschel fragt deshalb:

»Wenn sich viele Menschen umbrachten, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, ist ihr Tod dann als Selbstmord zu betrachten? Ist wirklich jeder Tod durch die eigene Hand ein Selbstmord, auch dann wenn die handelnde Person starken äußeren Zwängen, Kontrollen, Unterdrückung und Terror ausgesetzt war?«

Allgemein blieb die Selbstmordrate während der NS-Zeit deutlich über dem Niveau von 1913. Aber schon in den politisch und wirtschaftlich turbulenten Jahren der Weimarer Republik hatte die Suizidalität der Deutschen deutlich zugenommen. Tatsächlich trieben die Nationalsozialisten aber viele politische Gegner wie auch deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens in den Suizid. Auch wenn Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter*innen ihrem Leben selbst ein Ende setzten, muss das NS-Regime in letzter Konsequenz hierfür verantwortlich gemacht werden.

Mordopfer unter den »Selbstmördern«? Der Fall Eugen Wiedmaier

Im Zuge der Entnazifizierung schrieb der Öffentliche Kläger des Internierungslager Ludwigsburg 1948 an die Tübinger Anatomie. Er hegte den Verdacht, dass Eugen Wiedmaier (es existiert auch die Schreibweise Widmaier) am 14. März 1940 nicht durch eigene Hand aus dem Leben geschieden, sondern ermordet worden war. Wiedmaier hatte sich seit 1919 für die KPD engagiert und seine politische Betätigung auch im NS-Staat nicht eingestellt. Im Januar 1934 wurde er in Karlsruhe verhaftet und zunächst zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Noch während er diese Strafe absaß, strengte die NS-Justiz einen weiteren Prozess gegen ihn an. Er endete in einer Verurteilung wegen Landesverrats zu zwölfeinhalb Jahren Zuchthaus, die Wiedmaier seit dem 8. September 1936 in Ludwigsburg verbüßte.

Bei Wiedmaier handelte es sich um einen politischen Gefangenen, so dass ein Mordmotiv für das NS-Regime grundsätzlich vorhanden war. Um seinen Verdacht zu erhärten, schickte der Öffentliche Kläger ein Foto des Verstorbenen mit, auf dem eine vier Zentimeter lange, gezackte Wunde auf dem Hinterkopf zu erkennen war, die mit dem Befund »Selbstmord durch Erhängen« nicht zusammenpassen wollte. Walter Jacobj, seit 1924 am Anatomischen Institut und seit Kriegsende dessen Leiter, suchte dieses Indiz jedoch zu entkräften: »[S]o habe ich […] den Eindruck, dass die Verletzung am Hinterkopf durch dessen Anschlagen an die Metalltür als Nebenbefund entstanden sein könnte und die eigentliche Todesursache – wie seinerzeit angegeben – doch im Erhängen gelegen sein dürfte.« Er empfahl aber zugleich, einen Gerichtsarzt mit der Angelegenheit zu befassen, da ihm die notwendige Expertise fehlte. Ein anderer Zeuge ließ dagegen keinen Zweifel zu. Zu Wiedmaiers Tod erklärte er: »Er war ein ruhiger zurückhaltener (sic!) Mensch. Zweimal hat er schon Selbstmordversuche gemacht, die aber frühzeitig bemerkt wurden. Beim 3. Selbstmordversuch fand er den Tod. Was Wiedmaier in den Tod getrieben hat ist mir bis heute noch unbekannt, jedenfalls ich trage keine Schuld.« Der letzte Satz ist der entscheidende dieser Aussage, denn sie stammt von Max Karl Klaus, der von 1938 bis 1945 das Zuchthaus Ludwigsburg als Direktor leitete. Das heißt aber auch, dass er mit jeder Aussage, die den Suizid infrage gestellt hätte, sich selbst belastet hätte. Heute geht die Forschung davon aus, dass Eugen Wiedmaier tatsächlich ermordet wurde.


Literatur

  • Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 8. Angefangen: 1.I.32. Beendigt: 31.12.1942, in: UAT 174/8.
  • Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 9. 1943-1968, in: UAT 174/37.
  • Der öffentliche Kläger der Internierungslager Ludwigsburg, Bischoff, an Prof. Dr. med. Jakobj (sic), 16. Sept. 1947, in: UAT 174/123.
  • Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Berlin 2011.
  • Walter Jacobj, An den Oeffentlichen Kläger der Internierungslager, 25.9.1947, in: UAT 174/123.
  • Karl Max Klaus an den öffentlichen Kläger, 2. Juli 1947, in: StAL EL 902/20 79227 Teil 4/6.
  • Udo Rauch, Die Toten des Gräberfeldes X auf dem Stadtfriedhof Tübingen. Ein Verzeichnis, Tübingen 2019.
  • Mathias Schütz, Doppelte Moral. Der Medizinstudent Kurt Gerstein und die Geschichte des anatomischen Leichenwesens in Deutschland, in: NTM Zeitschrift für Geschcihte der Wissenschaften, Technik und Medizin, 26-2(2018), S. 185-212.
  • Hermann Weber/Andreas Herbst, s.v. Wiedmaier, Eugen, in: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, 2., überarbeitete und stark erweiterete Auflage, Berlin 2008, S. 1021-1022.