Schichamir Gadirowitsch Gadirow

Kein Portraitfoto vorhanden
Alter:
40 Jahre
Geburtsort:
Sultan-Jurt (..1902) (Quelle: OBD Memorial)
Gebiet: Inguschetien
Todesort:
Stetten am kalten Markt /Lager Heuberg (12.06.1942) (Quelle: Leichenbuch)
Nationalität:
Inguschetien, Russland (Quelle: OBD Memorial)
Zuordnung:
Kriegsgefangene
Ort der Gefangennahme:
Kertsch (08.05.1942)

Schichamir Gadirow wurde 1902 geboren. Wir kennen sein genaues Geburtsdatum nicht, wie bei einigen der sowjetischen Kriegsgefangenen. Er stammte aus der kleinen Region Inguschetien, die sich im Nordkaukasus befindet. Die Menschen dort gehörten und gehören bis heute überwiegend dem Islam an, so auch Schichamir Gadirow.
Er arbeitete vor seinem Kriegsdienst im 816. Infanterie-Regiment der Roten Armee wie die meisten der auf dem Gräberfeld X begrabenen Kriegsgefangenen als Landwirt.
Am 8. Mai 1942 wurde er bei Kertsch von der Wehrmacht gefangengenommen und nach Deutschland transportiert, wo er dem Stammlager Villingen zugewiesen wurde. Er wurde im gleichen Zeitraum wie 18 weitere Rotarmisten gefangengenommen, die in die Tübinger Anatomie und auf das Gräberfeld X kamen. Seine Lebensdaten sind charakteristisch für diese Gruppe: Die Männer stammten meist aus dem Kaukasus, waren überwiegend muslimisch und schon relativ alt im Vergleich zu ihren Kameraden.

Kriegsgefangenschaft und ungeklärter Tod im Lager Heuberg

Zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme war Gadirow krank – eine Ausnahme bei den sowjetischen Kriegsgefangenen, die auf dem Gräberfeld X begraben wurden. Für kranke Kriegsgefangene „lohnte“ sich der Transport nach Deutschland aus Sicht der Wehrmacht eigentlich nicht, denn sie sollten harte Zwangsarbeiten verrichten und benötigten dazu eine möglichst gute Konstitution.

Mahnmal in Stetten a. k. M. für die Opfer des Nationalsozialismus. Das Lager bestand schon seit 1910 als Truppenübungsplatz, wurde dann 1921 zu einem Kinderheim, ab 1933 ein KZ und ab 1940 ein sog. “Reichsarbeitsdienstlager”. Noch heute wird das Areal von der Bundeswehr genutzt. (lizenzfrei)

Vom Stammlager Villingen wurde Gadirow ins Lager Heuberg in Stetten am Kalten Markt verlegt, noch heute dient das ehemalige Lager-Areal als Ausbildungsort der Bundeswehr. Seine Aufnahme am 10. Juni 1942, rund einen Monat nach seiner Gefangennahme, ist auf seiner Personalkarte 1 als einziger Eintrag vermerkt. Denn nur zwei Tage später, am 12. Juni 1942 starb Schichamir Gadirow. Seine Todesursache ist ungeklärt und nicht dokumentiert. Auf der Personalkarte 1 findet sich lediglich der Eintrag »Am 12. Juni 1942 im Russenlager Heuberg gestorben«. Auch im Leichenbuch der Tübinger Anatomie, an die Gadirows Leichnam übergeben wurde, wurde die Todesursache nur mit »unbekannt« angegeben.
Dabei war das anatomische Institut eigentlich dazu verpflichtet, die Todesursache anzugeben und hätte auch über die Möglichkeiten verfügt, sie nachträglich festzustellen. Seine Leiche wurde zudem anonym in die Anatomie eingeliefert und konnte erst 2016 durch eine Mitteilung der Russischen Botschaft in Berlin identifiziert werden.
Schichamir Gadirows Tod im Lager Heuberg war keine Ausnahme: In den Jahren 1941 und 1942 starben dort immer wieder sowjetische Kriegsgefangene an ungeklärten oder nicht dokumentierten Todesursachen oder aber bei Hinrichtungen. Auffällig ist dabei außerdem, dass es einige Tage gibt, an denen gleich mehrere Kriegsgefangene sterben.
Das kann möglicherweise an der Kombination aus den überharten Arbeitseinsätzen, der wechselhaften Witterung in Stetten am Kalten Markt und den unmenschlichen Bedingungen im Lager Heuberg liegen.
Die auffällige Häufung der ungeklärten Todesfälle und insbesondere Gadirows Einlieferung als anonyme Leiche in die Tübinger Anatomie könnten auch ein belastendes Indiz für die  These der »Aussonderungen« sein. 1942 war die Anzahl der Gefangenen in Deutschland bereits deutlich zurückgegangen und die bürokratischen Abläufe schon eingeübt. (Zur These der Aussonderungen)

Nach seinem Tod wurde Gadirow in die Anatomie Tübingen gebracht und auf dem Gräberfeld X begraben. Die Überweisung an die Anatomie, die Verwendung seiner Leiche innerhalb der universitären Lehre und das verspätete Begräbnis ignorierten dabei sämtliche muslimische Bestattungsrituale. Beispielsweise sollte der Leichnam einer Muslimin oder eines Muslims noch am Todestag bestattet werden.
Schichamir Gadirow starb im Alter von 39 oder 40 Jahren infolge der brutalen Rassenpolitik des Nationalsozialismus gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen. Möglicherweise wurde er sogar von der SS ermordet.

 

Autor: Jonas Metten (Wissenschaftl. Hilfskraft Gräberfeld X-Projekt)