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Kriegsgefangene

Rechtlicher Rahmen

Das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 legt in Artikel 76 Folgendes fest: »Die Kriegführenden werden dafür sorgen, daß die in der Gefangenschaft verstorbenen Kriegsgefangenen in würdiger Weise bestattet, ihre Gräber mit allen nötigen Angaben versehen, geachtet und angemessen erhalten werden.«

Obwohl das NS-Regime dieses internationale Abkommen rechtskräftig ratifiziert hatte, fühlte sich die für die Kriegsgefangenen verantwortliche Wehrmacht nur gegenüber Soldaten der Westalliierten an die Bestimmungen gebunden. Zur Begründung führte sie an, dass die Sowjetunion dem Abkommen nicht beigetreten war. Doch die Genfer Konvention enthielt keine Allbeteiligungsklausel. Das heißt, das Deutsche Reich und seine Streitkräfte hätten sich als Signatarstaat unabhängig von der Mitgliedschaft des Kriegsgegners an die Vorschriften halten müssen. Außerdem galten die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung von 1899/1907, die auch die Sowjetunion akzeptiert hatte. Die Verstöße gegen die internationalen Rechtsnormen waren aber nicht Ergebnis juristischer Auslegungsfragen, sondern eine bewusste, ideologisch begründete Entscheidung der NS-Führung. Von Beginn an hatten die Nationalsozialisten einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geplant. Die Wehrmachtsführung schloss sich diesem Ansinnen bereitwillig an und erließ, noch vor dem Überfall auf die Sowjetunion, am 6. Juni 1941 aus eigenem Antrieb den Kommissarbefehl. Dieser legitimierte die Ermordung sowjetischer Politoffiziere nach ihrer Gefangennahme, oft fielen ihm aber auch jüdische Gefangene zum Opfer.

Bestattungspraxis verstorbener Rotarmisten im Deutschen Reich

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die meisten Deutschen das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener in Kauf nahmen. Selten wurden die Verstorbenen in würdiger Weise bestattet. Als die ersten Rotarmisten auf dem Boden des Deutschen Reichs zu Tode kamen, erhielten sie noch Einzelgräber und wurden in Särgen beigesetzt. Auf ihre Grabstellen wurden sogar noch Kreuze gesetzt. Mit Beginn des Massensterbens im Oktober 1941 verfügte das Reichsinnenministerium dann aber, dass die Bestattung möglichst niedrige Kosten verursachen sollte, und schlug vor, statt eines Sarges den Leichnam mit Öl-, Teer- oder Asphaltpapier zu umhüllen. Seit dieser Zeit legte die Wehrmacht im Umfeld der Kriegsgefangenenlager auch auf dem Gebiet des Deutschen Reichs Massengräber an. Starben Kriegsgefangene bei einem Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers, wurden sie auf kommunalen Friedhöfen – oft in den »Selbstmörderecken« – bestattet. Die Stadt Tübingen schlug im Dezember 1941 vor, den jüdischen Friedhof in Wankheim zur Bestattung der zu erwartenden toten sowjetischen Kriegsgefangenen zu nutzen. Ähnliches ist von anderen deutschen Kommunen bekannt. Einige der Kriegsgefangenen – die Zahl dürfte sich reichsweit auf mehrere Hundert bis wenige Tausend belaufen – wurden jedoch nach ihrem Tod in anatomische Institute verbracht.

Wer waren die sowjetischen Kriegsgefangenen in der Tübinger Anatomie?

Am 15. September 1941 nahmen die Tübinger Anatomen die ersten drei toten Kriegsgefangenen in Empfang. Wiktor Belokurow (22), Iwan Sentjurow (23) und Semjon Tschernjakow (22) waren am selben Tag im Kriegsgefangenlager Heuberg exekutiert worden. Bis 1944 sollten weitere 153 tote Rotarmisten folgen. 1941 waren es insgesamt 69, ein Jahr später nur 21, 1943 dann 45, im vorletzten Kriegsjahr 21 Verstorbene.

Anzahl der jährlich in die Tübinger Anatomie verbrachten Kriegsgefangenen. Eigene Darstellung.

Bis zu Beginn unseres Projektes war kaum etwas über diese sowjetischen Kriegsgefangenen bekannt. Inzwischen hat sich dies geändert. Denn die Wehrmacht hatte biographische Daten vieler Rotarmisten auf Karteikarten erfasst. Diese Unterlagen kamen nach dem Krieg nach Moskau und werden heute im Militärarchiv der Russischen Föderation aufbewahrt. In deutsch-russischer Kooperation werden die Dokumente seit Mitte der 2000er Jahre digitalisiert und in die online frei zugängliche Datenbank OBD Memorial eingepflegt. Deshalb verfügen wir inzwischen über biographische Anhaltspunkte zu 138 der in die Tübinger Anatomie verbrachten Rotarmisten. Alle folgenden statistischen Aussagen beziehen sich auf diese Teilgruppe.

Die jüngsten Soldaten – Pawel Kornienko, Nikolaj Meschtschenko und Pawel Nagornyj – wurden gerade einmal 19 Jahre alt. Der älteste Kriegsgefangene, Semjon Sinkewitsch, wurde auch nicht älter als 47 Jahre. Es handelte sich insgesamt, wie zu erwarten, um eine sehr junge Opfergruppe. 78 Kriegsgefangene starben, bevor sie ihren 30. Geburtstag feiern konnten, nur 17 wurden älter als 40. Die Zeit, die sie in deutscher Gefangenschaft überlebten, schwankte ebenfalls stark. Die Spanne reichte von zwei Monaten bis knapp unter zwei Jahren und zehn Monaten. 82 von ihnen starben innerhalb des ersten Jahres der Gefangenschaft. Dabei waren fast alle zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme laut ihrer Personalkarte noch gesund. Diese Angabe ist durchaus glaubhaft, schließlich wurden sie für den Arbeitseinsatz ins Deutsche Reich gebracht. Die meisten der Rotarmisten, nämlich 99, kamen bereits 1941 in Kriegsgefangenschaft. Bei den Orten der Gefangennahme dominieren Weißrussland und Zentralrussland, also genau jene Gebiete, die Schauplätze der großen Kesselschlachten der ersten Kriegsmonate waren. 19 Soldaten gerieten 1942 auf der Krim in die Hände der Wehrmacht. Sie kämpften dort auf der Halbinsel Kertsch, auf der die Rote Armee im Winter einen starken Brückenkopf hatte errichten können, bevor ihn die Wehrmacht im Rahmen einer Offensive im Mai 1942 zerschlug. Nur ein Soldat, Aleksandr Golubinskij, war noch 1943 in Kriegsgefangenschaft geraten. Wie die meisten Toten, die in die Anatomie kamen, waren auch die Rotarmisten überwiegend einfacher Herkunft. Gut die Hälfte hatte vor dem Krieg in der Landwirtschaft gearbeitet. Dies schlug sich auch in ihren militärischen Rängen nieder. 117 waren einfache Soldaten, sechs bekleideten einen Unteroffiziersrang, drei waren Offiziersanwärter, fünf hatten einen Leutnantsrang inne. Auch zwei Ärzte finden sich unter den Toten.

Wie kamen die sowjetischen Kriegsgefangenen in die Anatomie?

Nach jetzigem Kenntnisstand teilten 19 polnische Militärangehörige das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Doch sie waren wohl allesamt vor ihrem Tod formell aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden und galten folglich als Zivilisten. Auf dem Gräberfeld X wurde wahrscheinlich nur ein polnischer Soldat, der noch den Status eines Kriegsgefangenen innehatte, bestattet: Stanisław Kosim. Er war am 28. September 1939 in Lublin in deutsche Gefangenschaft geraten und starb Mitte Januar 1945. Interessanterweise bewahrte den polnischen Staatsbürger Kosim sein Kriegsgefangenenstatus davor, in die Anatomie gebracht zu werden. Er wurde direkt auf dem Gräberfeld X bestattet.

Bei den sowjetischen Soldaten war dies anders. Kamen sie im ersten Jahr überwiegend aus Lagern oder Arbeitskommandos, lieferten ab 1943 fast ausschließlich Lazarette die Leichen von Rotarmisten in der Anatomie ab.

Abgabeorte der verstorbenen Kriegsgefangenen. Eigene Darstellung.

Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Die genauen administrativen Abläufe, die der Anatomie den Zugriff auf Kriegsgefangene ermöglichten, konnten bisher noch nicht abschließend ermittelt werden. Wir wissen zumindest, dass am 23. Oktober 1941 der Wehrkreisarzt des Wehrkreises V, zu dem Württemberg gehörte, die Lazarette anwies, Leichen sowjetischer Kriegsgefangener an die Anatomien abzugeben. Als erstes lieferte das Reservelazarett Schwäbisch Gmünd nach Tübingen, und zwar am 12. November 1941 den im Alter von 26 Jahren verstorbenen Grigorij Ksenz. Die Anweisung des Wehrkreisarztes könnte immerhin erklären, warum Lager und Arbeitskommandos als Bezugsquelle toter Kriegsgefangener im Laufe der Zeit zurücktraten. Warum aber hatte die Tübinger Anatomie schon mehr als einen Monat vor dem Schreiben des Wehrkreisarztes Leichen sowjetischer Kriegsgefangener erhalten? Eine mögliche Erklärung könnte die aus Luftschutzgründen erfolgte Verlegung der Marineärztlichen Akademie von Kiel nach Tübingen im Sommersemester 1941 liefern. Seither war die Anatomie institutionell mit einer Einrichtung der Wehrmacht verwoben, denn sie bestritt von nun an einen Teil der medizinischen Ausbildung der Marinesoldaten. Die Wehrmachtsangehörigen trugen zur Erhöhung der Studentenzahl bei, die während des Krieges noch weiter zunehmen sollte. Dadurch stieg einerseits der Bedarf an Leichen für Ausbildungszwecke, wie der Direktor der Anatomie im Februar 1942 bemerkte:

»Die Zahl der in Tübingen auszubildenden Studenten ist seit dem Krieg ganz erheblich gestiegen; während 1939 noch 183 Teilnehmer am mikroskopischen Kurs zu verzeichnen waren, betrug die Zahl 1940 233, 1941 433. […] Besonders aufmerksam mache ich noch im Rahmen der „Kriegswichtigkeit“ des Tübinger anatomischen Unterrichts auf die wachsende Zahl der Vorkliniker aus der marineärztlichen Akademie.«

Die Verbindung zur Marineärztlichen Akademie eröffnete aber womöglich andererseits dienstliche Kanäle zur Wehrmacht, die ja auch für das Kriegsgefangenenwesen verantwortlich zeichnete. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass es sich bei Kriegsgefangenen um eine völlig neue Gruppe von Toten darstellte. Anders als bei Hingerichteten und Exekutierten, die während des Krieges in immer größeren Zahlen an die reichsdeutschen Anatomien geliefert wurden, lässt sich bei den Kriegsgefangenen bisher keine Kontinuitätslinie in die Weimarer Republik oder in das Kaiserreich identifizieren. Jemand musste also bewusst diese neue »Quelle« erschlossen haben. Auch wenn sich die Vermutung, dass die Verbindungen zur Marineärztlichen Akademie für die Tübinger Anatomie eine wichtige Rolle spielten, noch nicht aus den Quellen belegen lässt, liegen entsprechende Indizien im Fall des Berliner Hirnforschers Julius Hallervorden vor. Er hatte »in seiner Eigenschaft als Sonderführer der Militärärztlichen Akademie« Kriegsgefangene für Forschungszwecke erhalten, wie Jürgen Peiffer später festhielt.

War die Anatomie in die Vertuschung von Kriegsverbrechen verwickelt?

Offen bleibt aber die Frage, warum die Anatomie die Kriegsgefangenen nicht von Anfang an aus Lazaretten bezogen hatte. Dies hätte immerhin einem etablierten Ablauf entsprochen, denn zivile Krankenhäuser versorgten die Anatomien traditionell mit verstorbenen Patientinnen und Patienten. Die Lieferungen verstorbener Kriegsgefangener im Jahr 1941 fallen folglich besonders auf. Und dies aus einem weiteren Grund: Bis auf wenige Ausnahmen verzeichnete das Leichenbuch der Anatomie für sie keine Todesursache, manche wurden sogar anonym in Empfang genommen. Reinhard Otto, ein Experte für die Geschichte der sowjetischen Kriegsgefangenen, ging zumindest für die aus dem Lager Heuberg stammenden Toten davon aus, »daß sie im Zusammenhang mit den Aussonderungen gesehen werden müssen«. »Aussonderung« war eine zeitgenössische Tarnbezeichnung für die Ermordung sowjetischer Soldaten, die in den Augen der SS-Einsatzkommandos weltanschaulich gefährlich waren. Grundlage für diese Mordaktion waren die Einsatzbefehle Nr. 8 und 9, die Reinhard Heydrich in seiner Funktion als Chef des SD und der Sicherheitspolizei Mitte Juli 1941 erlassen hatte. Mit ihnen erweiterte Heydrich den Wirkungsbereich des Kommissarbefehls der Wehrmacht auf das Gebiet des Deutschen Reiches.

Trifft Ottos Vermutung zu, so hätte sich die Tübinger Anatomie der Verschleierung von Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Denn wer in anderen Fällen penibel im Leichenbuch vermerkte, ob ein Toter erschossen, erhängt oder enthauptet worden war, hätte in jedem Fall erkennen müssen, wenn jemand gewaltsam zu Tode gekommen war. Umgekehrt könnte das Fehlen solcher Einträge aber auch bedeuten, dass eine Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen nicht offensichtlich war. Eine Einlassung von Walter Jacobj, der während des Krieges als außerordentlicher Professor am Anatomischen Institut wirkte, bevor er in der Nachkriegszeit zu dessen Direktor berufen wurde, zeigt jedoch, wie leicht den Anatomen das Wegsehen gemacht wurde. Vom Öffentlichen Kläger der Internierungslager Ludwigsburg 1947 mit der Frage konfrontiert, ob ein 1940 angeblich durch Suizid verstorbener politischer Häftling nicht vielleicht einem Totschlag zum Opfer gefallen sein könnte, erwiderte Jacobj:

»Alle bezüglich der Todesart verdächtigen Fälle werden jedoch vor Einlieferung in die Anatomie einer gerichtsärztlichen Sektion unterzogen […]. Da nun aber auch alle an die Anatomie eingelieferten Leichen von staatlichen Behörden überwiesen werden, lag nach den früheren Erfahrungen auch kein Verdachtsgrund für die Annahme von Verbrechen vor.«

Otto gibt zudem zu Recht zu bedenken, dass sowjetische Kriegsgefangene gerade in dem Zeitraum aus Lagern und Arbeitskommandos in die Anatomie abgegeben wurden, in dem Gefangene durch Einsatzkommandos der SS liquidiert wurden. Das stärkste Indiz für diese Vermutung ist ein am 8. Juni 1942 anonym und ohne Angabe der Todesursache aufgenommener Russe, der einen Tag zuvor auf dem Heuberg ums Leben gekommen war. Denn eine im Frühsommer 1942 erfolgte anonyme Ablieferung lässt sich nicht mehr mit der schieren Masse an (verstorbenen) Kriegsgefangenen erklären, mit der die Wehrmachtsbürokratie noch im Herbst 1941 konfrontiert war.

Leistete die Tübinger Anatomie also Beihilfe zur Verschleierung einer Mordaktion der SS? Beweise ließen sich in den Quellen bisher nicht ausfindig machen. Die vorliegenden Indizien stützen Ottos Vermutung, auch wenn ein Rest an Ungewissheit bleibt. Sicher ist aber, dass die Tübinger Anatomen ohne Skrupel verstorbene Kriegsgefangene für Lehr- und Forschungszwecke in Empfang nahmen und nutzten. Dabei hätte Robert Wetzel, der Leiter der Anatomie, um den damit verbundenen Rechtsbruch wissen müssen, hatte er doch nicht nur als Offizier im Ersten Weltkrieg gedient, sondern sein militärisches Engagement als Reservist bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fortgesetzt.


Literatur:

  • Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 8. Angefangen: 1.I.32. Beendigt: 31.12.1942, in: UAT 174/8.
  • Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 9. 1943-1968, in: UAT 174/37.
  • Walter Jacobj, An den Oeffentlichen Kläger der Internierungslager Ludwigsburg, 25.9.1947, in: UAT 174/123.
  • Rolf Keller, Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42. Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Zwängen, Göttingen 2011.
  • Hans-Joachim Maurer, Die Marineärztliche Akademie 1940-1945: kurzer Abriß ihrer Geschichte, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 26(2003), S. 111-124.
  • Reinhard Otto, Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42, München 1998.
  • Udo Rauch, Die Toten des Gräberfeldes X auf dem Stadtfriedhof Tübingen. Ein Verzeichnis, Tübingen 2019.
  • Robert Wetzel an die Firma Wagner & Munz, München, 9.II.1942, in: UAT 174/156.
  • Schreiben des Friedhofamtes vom 22.12.1941, zitiert nach: Der jüdische Friedhof Wankheim, dokumentiert von Frowald Gil Hüttenmeister, in Zusammenarbeit mit Elke Maier und Jan Maier, Stuttgart 1995, S.27.