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Ausstellung

Die Ausstellung wurde noch einmal bis September 2025 verlängert!
Sie ist werktags zwischen 10:00 Uhr und 17:00 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei!

 

Trailer zur Ausstellung auf dem Kanal des Uniklinikums Tübingen.

 

Zwei Semester lang setzten sich Studierende der Medizin und der Geschichtswissenschaft intensiv mit den Wirkungen und Nachwirkungen der NS-Gewaltherrschaft auf die Tübinger Anatomie sowie mit dem angemessenen Umgang mit Human Remains auseinander. Ihre Vorarbeit floss in die Ausstellung »Entgrenzte Anatomie. Eine Tübinger Wissenschaft und der Nationalsozialismus« ein, die Leonie Braam und Henning Tümmers (beide Institut für Ethik und Geschichte der Medizin) gemeinsam mit Benigna Schönhagen und Stefan Wannenwetsch (beide Projekt Gräberfeld X) kuratierten.
Die Idee zur Ausstellung geht auf Benigna Schönhagen zurück, doch wäre sie ohne die Unterstützung durch Bernhard Hirt, den Direktor des Instituts für Klinische Anatomie und Zellanalytik, nicht möglich gewesen. Auch das Team des Museums der Universität Tübingen MUT um Prof. Dr. Ernst Seidl leistete unverzichtbare Unterstützung. Die Gestaltung der Ausstellung konzipierte Stephan Potengowski vom Atelier für Formgebung. Er übernahm zusammen mit Matthias Helle auch die praktische Umsetzung.

Schwerpunkte der Ausstellung

Was die Ausstellung nicht sein sollte, war schnell klar. Es sollte keine bloße Schau zur »Anatomie unterm Hakenkreuz« werden. Der Bezug auf die Debatte um die Human Remains bot hier die Möglichkeit für eine weitergefasste Perspektive. Die Ereignisse der NS-Zeit lassen sich so differenzierter betrachten, denn es werden Kontinuitätslinien sichtbar. Sie reichen bis in die frühe Neuzeit zurück und greifen auch weit über das Jahr 1945 hinaus. Die Praxis, Menschen ohne deren zu Lebzeiten eingeholte Zustimmung zwangsweise der Anatomie zu übergeben, dauerte in Tübingen immerhin 500 Jahre an. Auch die Distanz, die Anatom*innen zu den toten Körpern einnehmen, bildet eine solche Kontinuität. Konkret wirft die Ausstellung die Frage auf, wie wir heute mit Humanpräparaten umgehen sollten, die nicht von freiwilligen Körperspender*innen stammen. Unter welchen Umständen können sie noch ausgestellt werden? Dürfen sie überhaupt noch gezeigt werden? Sollen sie der Öffentlichkeit entzogen, aber in einem Archiv für weitere Forschungen aufbewahrt werden? Oder müssen sie bestattet werden? Eine Antwort kann und will die Ausstellung nicht geben, wohl aber zur Debatte anregen, die noch immer am Anfang steht.

Über der chronologischen Ausstellungslinie sind Tafeln mit Biographien angebracht. Foto: Jonas Metten.

Was die Debatte um die Human Remains so schwierig macht, ist die Ambiguität der Humanpräparate. Sie sind zwar menschlichen Ursprungs, zugleich aber auch ein wissenschaftliches Artefakt. In anatomischen Schausammlungen verlieren sie aber ihre Ambivalenz. Die Individualität der Menschen kommt dort nicht mehr vor, die Präparate werden allein als wissenschaftliche Modelle präsentiert. In unserer Ausstellung zeigen wir daher exemplarisch die Lebensgeschichte von Personen, die 1933 bis 1945 der Anatomie für Lehr- und Forschungszwecken zur Verfügung gestellt wurden. Eine Textilinstallation mit den Namen und Lebensdaten dieser Menschen eröffnet die Ausstellung. Sie lädt zur praktischen Erinnerungsarbeit ein.

Textilinstallation von Margarete Warth im erste n Raum der Ausstellung. Foto: Jonas Metten.

Ohne Wissen um das Leben und Sterben dieser Menschen lässt sich auch die Rolle der Tübinger Anatomie in der NS-Zeit nicht bewerten. Die Ausstellung zeigt auf, wie die traditionelle »Armenanatomie« spätestens ab 1941 immer deutlichere Züge einer »Rassenanatomie« angenommen hat. Und auch wenn die Tübinger Anatomen keine extremen Verbrechen begingen, wie sie sich August Hirt zuschulden kommen ließ, begingen doch auch sie Unrecht. Mit der Annahme verstorbener sowjetischer Kriegsgefangener brachen sie das Kriegsvölkerrecht.

Erst in den 1960er Jahren führte die Anatomie die freiwillige Körperspende ein. Dies war, so zeigt die Ausstellung, keineswegs das Ergebnis ethischer Reflexionen über die Rolle des Fachs in der NS-Zeit. Vielmehr funktionierte die staatlich sanktionierte Zwangsabgabe von Leichen in der liberalisierten westdeutschen Wohlstandsgesellschaft nicht mehr.

Öffnungszeiten und Begleitprogramm

Haben wir Sie neugierig gemacht? Dann freuen wir uns auf Ihren Besuch! Die Ausstellung ist am historischen Ort der Alten Anatomie (Österbergstraße 3, 72074 Tübingen) zu sehen. Bis zum 30. September 2025 (ein zweites Mal verlängert) ist sie jeweils montags bis freitags von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist für Sie frei! Führungen können individuell vereinbart werden per Mail an: graeberfeldx[at]uni-tuebingen.de

Götz Aly beim Festvortrag. Foto: Klaus Fröhlich.

Ein umfangreiches Programm begleitet die Ausstellung. Zur Eröffnung kamen etwa 400 Besucher*innen, um den Festvortrag von Götz Aly zu hören. In den nächsten Wochen folgen noch weitere Vorträge zu den Opfergruppen, die während der NS-Zeit in die Tübinger Anatomie verbracht worden waren. Alle Vorträge können auch per Zoom verfolgt werden, ein Videomitschnitt wird kurze Zeit später auf unserer Homepage hochgeladen.

Auch Studierende bereichern das Programm rund um die Ausstellung. In einem weiteren Lehrforschungsprojekt haben sie unterschiedliche Vermittlungsangebote entwickelt. Sie bieten, wie auch die Kurator:innen, zum einen mehrere Führungen an. Im Juli veranstalten sie, zum zweiten, eine biographische Lesung zu einzelnen NS-Opfern. Speziell für Schüler:innen hat eine dritte Studierendengruppe einen Workshop entwickelt, der neben dem Besuch der Ausstellung auch Arbeit mit historischen Quellen umfassen wird. Und schließlich hat eine vierte Gruppe sich der Aufgabe angenommen, einen Blog zu verfassen. Jeden Monat schalten wir einen ihrer Texte hier frei.

Und für alle, die es doch nicht nach Tübingen schaffen: Wir haben auch einen Katalog zur Ausstellung für Sie gedruckt!


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