05.06.2023

»Medizin meets Geschichte«

Die Lehrforschungsprojekte der Ausstellung »Entgrenzte Anatomie«

Von Hendrik Schirner

Plakat zur Ausstellung

Die Ausstellung »Entgrenzte Anatomie« ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Nicht nur das Thema der Ausstellung, welches sich mit der lokalen und universitären Geschichte auseinandersetzt, ist ungewöhnlich. Auch die Konzeption ist nicht alltäglich: Sie entstand aus der Zusammenarbeit von Studierenden der Geschichtswissenschaft und der Medizin. Die Lehrforschungsprojekte begannen im Wintersemester 2020/21 mit dem Fokus auf dem Gräberfeld X lag. Die darauffolgenden Projekte, im Wintersemester 2021/22 sowie im Sommersemester 2022, bereiteten dann unter dem Titel »Der Umgang mit Human Remains. Die Tübinger Anatomie im Unrechtskontext der NS-Zeit« die Ausstellung »Entgrenzte Anatomie« vor. Zuletzt arbeiteten die Studierenden im Wintersemester 2022/23 an Vermittlungskonzepten der Ausstellung. Wir stellen Ihnen hier die verschiedenen Lehrforschungsprojekte vor. Als Teilnehmer des vierten Lehrforschungsprojektes berichte ich abschließend von meinen eigenen Erfahrungen.

Die Grundlagen – Die Toten des Gräberfeld X

Im ersten Lehrforschungsprojekt ging es um die Erarbeitung und Rekonstruktion der Lebensgeschichten von Personen, die in die Tübinger Anatomie gekommen und dann auf dem Gräberfeld X begraben worden waren. Tamara Gajic, Jonas Metten, Justus Raimann und Christian Serdarusic haben sich dabei mit den Biografien von 134 sowjetischen Kriegsgefangenen beschäftigt, zu denen Quellen vorliegen.

Personalkarten

Die Lebensdaten der Kriegsgefangenen wurden mit Hilfe der Personalkarten der Wehrmacht aufgeschlüsselt. Es war kriegsvölkerrechtlich vorgesehen, eine solche Kriegsgefangenenkartei anzulegen, die nach Ende der Kampfhandlungen an den Kriegsgegner übergeben werden sollte. Die Kriegsgefangenen erhielten eine Matrikelnummer, um eindeutig identifizierbar zu sein. Die Nummern waren auf allen personenbezogenen Dokumenten und Lagerlisten, so auch auf den Personalkarten, vermerkt. Diese sind doppelseitig bedruckt und enthalten zwar persönliche Angaben zu dem jeweiligen Kriegsgefangenen, jedoch keine detaillierteren Informationen. Auf den Personalkarten sind Namen und Kontaktadressen von Angehörigen auch auf Kyrillisch vermerkt. Vorgesehen waren auch Fotos und persönliche Merkmale.

Erklärungen zur Personalkarte I. Quelle: Portfolio der Arbeitsgruppe.

Die Gruppe wertete alle ihnen zur Verfügung stehenden Daten – etwa zur Religionszugehörigkeit, zum Beruf oder zu den Todesursachen der Kriegsgefangenen – aus. Andere Studierende beschäftigten sich mit den Lebensgeschichten von Psychiatrieinsassen, Strafgefangenen und Hingerichteten.

Auf dem Weg zur Ausstellung

Bei ihrem Besuch in der Alten Anatomie war den Studierenden eine Leerstelle aufgefallen: Nirgends findet sich dort ein Hinweis auf die Verwendung von NS-Opfern für anatomische Lehr- und Forschungszwecke. So entstand die Idee, eine Ausstellung zu erarbeiten – eine Idee, für die sich der Anatomiedirektor Bernhard Hirt sofort begeisterte. So konnte ein Jahr später das zweite Lehrforschungsprojekt starten.

Inhaltlich beschäftigten sich die Studierenden nun mit der Rolle der Anatomie im Nationalsozialismus sowie mit der Nachgeschichte des NS und dem Umgang mit Human Remains. Für die geplante Ausstellung erstellten die Teilnehmenden zunächst ein Grobkonzept und bearbeiteten mögliche Schwerpunkte. Eine Gruppe behandelte beispielsweise die vielschichtigen Verflechtungen und Verstrickungen, also die unterschiedlichen Verbindungen und Vernetzungen des Anatomischen Instituts in der NS-Zeit. Die enge Verbindung des Anatomischen Instituts mit seinem Umfeld führte zu einer Verantwortungsdiffusion zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. So konnten NS-Opfer, die in Lagern, Gefängnissen oder Heilanstalten einen gewaltsamen Tod erleiden mussten, anschließend in der Tübinger Anatomie »entsorgt« werden konnten.

Eine Gruppe um Selina Mayer, Jonas Metten und Marcel Schön führte Interviews mit Mediziner*innen aus unterschiedlichen Generationen, um die Abläufe innerhalb der Anatomie und des Medizinstudiums aus heutiger Zeit mit der Vergangenheit zu vergleichen. Die Interviews eröffnen einen persönlichen Zugang zum Thema. Gesprächspartner waren neben heutigen Medizinstudierenden Bernhard Hirt sowie das Ärztepaar Ines und Ludger Schöls. Diese haben in den 1980er-Jahren in Tübingen und Bonn Medizin studiert. Das Interview mit Bernhard Hirt liefert außerdem Einblicke in die Institution der Anatomie und beschäftigt sich mit dem heutigen Umgang des Körperspendewesens.

Einen zweiten personenbezogenen Zugang bieten Biografien von Menschen, welche während der NS-Zeit in die Anatomie gebracht wurden. Michaela Kästl hat zwei Semester lang an diesen Biografien gearbeitet und war dabei, wie sie berichtet, mit einigen Herausforderungen konfrontiert: »Denn wie sollten wir die Lebensgeschichten der Menschen nicht nur rekonstruieren, sondern auch noch kritisch genug für die Besucher:innen zugänglich machen, wenn wir über fast keine persönlichen Dokumente, wie Tagebucheinträge oder Briefe, in welchen die Verstorbenen selbst zu Wort kamen, verfügten? Was konnten wir tun, wenn uns nur Namen und Geburtsdaten überliefert waren?«

Robert Wetzel beim Unterricht. Quelle: UAT.

Die konzeptionelle Arbeit des zweiten Lehrforschungsprojektes bildete die Basis für die Arbeit im darauffolgenden Semester. Nun ging es um die konkrete Arbeit an der Ausstellung. Kleingruppen erarbeiten die einzelnen Ausstellungsstationen. Miriam Rapp und Bernhard Schnabel setzten sich beispielsweise mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus auf Fach und Universität auseinander. Sie bereiteten die Textgrundlage vor, aus der nach mehreren Überarbeitungen und Kürzungen schließlich die Station »Einschnitte. Universität und Anatomie im Nationalsozialismus« hervorgegangen ist. Die Station zeigt Bilder und Schriftstücke des damaligen Anatomiedirektors Robert Wetzel, der als nationalsozialistischer Funktionär die Hochschulpolitik ab 1936 maßgeblich mitgestaltet hatte.

Vermittlungskonzepte

Im vierten und abschließenden Lehrforschungsprojekt beschäftigten wir uns mit der Frage, wie die Inhalte der Ausstellung vermittelt werden können. Nachdem wir zunächst die theoretischen Grundlagen zur Gedenkstättenpädagogik sowie zur Anatomie und Medizin im Nationalsozialismus erarbeitet hatten, führte uns eine erste Exkursion in die Alte Anatomie auf den Österberg. Am historischen Ort des Geschehens erhielten wir einen Einblick in die Geschichte des Instituts, bevor wir anschließend die bisherige anatomische Schausammlung besuchten.

Unsere Eindrücke der historischen Präparate reichten von wissenschaftlichem Interesse über Verwunderung bis hin zu Ekel. Noch am selben Tag ging es zum historischen Anatomiefriedhof, dem bis 1963 von der Anatomie genutzten Gräberfeld X auf dem Stadtfriedhof. Hier beschäftigte uns insbesondere die Frage nach der Wirkung der Gedenkstätte. Wir fanden die Atmosphäre eindrucksvoll, hatten aber auch Kritikpunkte: Das Gräberfeld X ist nur schwer auffindbar und einige Inschriften auf den Gedenktafeln sind kaum lesbar. Die Kreuz-Symbolik ist problematisch, sind dort doch auch Menschen muslimischen und jüdischen Glaubens hier bestattet.

Funktion, Wirkungsweise und Vermittlungskonzepte untersuchten wir dann beim individuellen Besuch einer Gedenkstätte unserer Wahl. Ein besonderes Augenmerk lag dabei insbesondere auf solchen in Baden-Württemberg mit Bezug auf die medizinischen Verbrechen der NS-Zeit, wie etwa die Dokumentationsstätte Lager Weinsberg oder die Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten. Ich selbst besichtige das ehemalige KZ Mittelbau-Dora, das mich durch die Vielzahl an Vermittlungsmöglichkeiten sowie dem authentischen Ort der Stollenanlage beeindruckt hat, wurde besichtigt.

Einblicke in Gedenkstättenpädagogik

Gedenkstätte Grafeneck. Fotograf: TheFlixx, 2010, Wikipedia.

Eine weitere Exkursion führte uns im Februar in die Gedenkstätte Grafeneck. Auf dem Gelände existierte während der NS-Zeit eine Tötungsanstalt, in welcher im Rahmen der »Aktion T4« über 10.000 psychisch kranke Menschen ermordet wurden. In der Gedenkstätte wurden uns verschiedene Angebote der Gedenkstättenpädagogik vorgestellt. Im Gespräch mit den Mitarbeiter*innen vertieften wir unser bereits gesammeltes Wissen und diskutierten unsere bis dahin erarbeiteten Vermittlungskonzepte zur Ausstellung »Entgrenzte Anatomie«.

Vermittlungskonzepte

Eine AG (Sandra Höhn, Michaela Kästl und Sarah Schkatula) bereitet eine Lesung zu den Biografien von Anatomietoten vor, die das vorausgegangene Lehrforschungsprojekt erarbeitet hat. Die Lesung »Vergessene Namen, verlorene Geschichten« findet am 24. Juli um 19 Uhr in der Alten Anatomie statt.

Eine zweite AG (Jasmin Hopfer, Zhijun Xie und Hendrik Schirner) erarbeitet Blogbeiträge, die die Ausstellung ergänzen und vertiefen sollen.

Eine dritte Gruppe (Furkan Yüksel, Leonie Waldert und Mia Paulus) konzipiert einen Workshop für eine Schulklasse, der Schülerinnen und Schüler Ausstellung nahebringen soll.

Die vierte AG (Lukas Schultze-Melling und Rebecca Kowalski) bereitet Führungen durch die Ausstellung vor, die am 12. Juni, 3. Juli und 18. September, jeweils um 17.30 Uhr stattfinden werden.

Meine Erfahrungen

Da mein persönliches Interesse in der Geschichte insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus gilt, war ich auf die für mich neue thematische Verbindung zur Anatomie und dem Umgang mit den Human Remains gespannt. Weil mir im Bereich der Medizingeschichte noch Kenntnisse fehlten, empfand ich die Grundlagentexte, welche wir uns selbst erarbeiteten, als sehr hilfreich. Hier hätte ich mir, insbesondere zum Beginn des Semesters, einen wöchentlichen Termin gewünscht. Die Exkursionen haben mir durch die praktische Anwendung des zuvor Erlernten neue Perspektiven eröffnet.

Schwierigkeiten traten vor allem dann auf, wenn Unklarheiten bezüglich der bereits geleisteten Vorarbeit bestanden. Hier wäre eine personelle Kontinuität, sowohl von Seiten der Dozierenden als auch der Studierenden, hilfreich gewesen. So gab es neben mir noch weitere Personen, die nur an dem vierten Lehrforschungsprojekt teilnahmen und daher kaum Wissen über die konzeptionelle Arbeit an der Ausstellung hatten. Dies wurde aber durch die Lehrpersonen sowie andere Studierende, die bereits an den vorausgegangenen Projekten teilnahmen, abgefedert. Den regelmäßigen Austausch mit den anderen Gruppen sowie den Dozierenden empfand ich insgesamt als fruchtbar und perspektiverweiternd. Ich bin mir sicher, dass die Ausstellung neue Erkenntnisse zu einem interessanten Thema bringen wird. Ich hoffe außerdem, dass auch die von uns erarbeiteten Vermittlungskonzepte neue Diskussionen angestoßen werden.

Alle Teilnehmer*innen der Lehrforschungsprojekte wurden angehalten, ihre Erfahrungen zu reflektieren. Vier dieser Reflexionen finden sich im Ausstellungskatalog. Es lohnt sich also schon deshalb, diesen zu lesen.