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Anatomie im NS

Die Situation und Rolle der Anatomien im Nationalsozialismus lässt sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wie so oft ist eine differenzierende Herangehensweise die bessere Wahl als die Suche nach pauschalen Urteilen. Deshalb ist es sinnvoll, zwischen der Anatomie als universitärer Einrichtung, der Anatomie als medizinischem Teilgebiet sowie den Anatomen als Akteuren mit eigenem Gestaltungsspielraum zu unterschieden.

Noch können wir diese unterschiedlichen Dimensionen nicht umfassend beschreiben. Wir möchten stattdessen aber im Folgenden einige Punkte anreißen, die wir weiter verfolgen werden.

Anatomie als universitäre Einrichtung

Die bisherige Forschung tendiert dazu, Anatomien als autonome Einheiten mit klaren Außengrenzen zu betrachten. Dies liegt im institutionengeschichtlichen Zugriff begründet, hat aber auch mit der Motivation der Forscher zu tun, den Grad der Verstrickungen der Anatomien in die NS-Verbrechen zu bemessen. Diese Zielsetzung ist zweifelsohne wichtig und richtig. Uns erscheint es jedoch zielführender zu sein, die Anatomie als eine hybride Organisation zu begreifen. Denn die Anatomie war und ist als medizinische Grundlagen- und Hilfswissenschaft eng mit der medizinischen Fakultät verflochten. So wurden die meisten Leichen nicht für anatomische Forschungszwecke verwendet, sondern für die Ausbildung der Medizinstudenten. Die Tübinger Anatomie fungierte darüber hinaus als Leichenbeschaffungsstelle für die hiesige Chirurgie, der die Anatomie ihre Kosten dafür in Rechnung stellte. Über die Finanzen war die Anatomie aber auch mit der Gesamtuniversität verbunden. Das Budget des Anatomischen Instituts war so bemessen, dass die Kursgelder der Studierenden ebenso wie die Verkäufe von Präparaten an außeruniversitäre Einrichtungen einen fest einkalkulierten Bestandteil des jährlichen Budgets bildeten. Diese Ökonomisierung der Leichen blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Einstellung der Anatomen gegenüber den Verstorbenen. Wenn die Frage nach der Verantwortung der Anatomie im »Dritten Reich« gestellt wird, so ist die medizinische Fakultät wie auch die Gesamtuniversität in die Antwort einzubeziehen. Im Tübinger Fall kommt mit der aus Luftschutzgründen bedingten Ansiedlung der Marineärztlichen Akademie noch eine weitere Institution ins Spiel. Denn die Anatomie war seit 1941 in die Ausbildung von Soldaten eingebunden, wodurch ihr ein außeruniversitärer, militärischer Charakter zuwuchs.

Ohne Zweifel profitierten die Anatomien während des Krieges von der NS-Gewaltherrschaft. Die Zufuhr von Hingerichteten, Zwangsarbeiter*innen und sowjetischen Kriegsgefangenen ließ unter den Anatomen fortan keine Klage über Leichenmangel mehr aufkommen. Gleichwohl war das Verhältnis der Anatomien zum NS-Staat keinesfalls frei von Friktionen. In der Frühphase wirkte sich die restriktive Hochschulpolitik, die deutschlandweit zu einem Rückgang der Studierendenzahlen führte, auch auf die Anatomien aus. Dies hatte, wie gezeigt, unmittelbare ökonomische Auswirkungen auf das Anatomische Institut. Mit Kriegsbeginn rief die geplante Reform der Studienordnung bei Robert Wetzel, dem Direktor der Tübinger Anatomie, scharfen Protest hervor. Zudem war die Volksgemeinschaftspropaganda der Nationalsozialisten geeignet, den traditionellen Zugriff der Anatomien auf die Leichen von mittellos Verstorbenen infrage zu stellen. Das Verhältnis der Anatomien zu den Machthabern barg daher Konfliktpotential. Auch dies muss in die geschichtswissenschaftliche Gesamtbewertung mit einfließen.

Anatomie als Fach

Zu diesem Aspekt können wir bisher kaum etwas sagen, hier stehen noch grundlegende Literaturrecherchen an. Wichtig erscheint uns, nicht nur nach der Rolle der anatomischen Wissenschaft im NS-Herrschaftssystem zu fragen, sondern auch zu untersuchen, welche Funktion und welchen Stellenwert das NS-Regime diesem Fach überhaupt zugedacht hatte. Dadurch nämlich lässt sich der Handlungsspielraum der Anatomen besser beurteilen. Nimmt man die »Anatomische Gesellschaft«, das heißt den wissenschaftlichen Fachverband, als Vergleichsgrundlage in den Blick, so scheint er für das NS-Regime keine besondere Rolle gespielt zu haben. Ihr internationaler Charakter blieb unangetastet, obwohl gerade Robert Wetzel während des Krieges einen – letztlich vergeblichen – Versuch unternommen hatte, einen rein deutschen Fachverband zu gründen.

Anatomen als Akteure

Viele Anatomen wussten die Möglichkeiten, die ihnen das NS-Regime bot, durchaus für sich zu nutzen. Am weitesten ging August Hirt. Als Ordinarius der »Reichsuniversität Straßburg« beteiligte er sich unmittelbar an Verbrechen. Auf sein Betreiben hin wurden 86 jüdische KZ-Häftlinge in Natzweiler ermordet, um Hirt den Aufbau einer Skelettsammlung zu ermöglichen. Hans-Joachim Lang erkannte darin einen »Paradigmenwechsel« in der Leichenbeschaffung, weil hier ein Anatom erstmals den Tod von Menschen für »Forschungs«zwecke aktiv herbeigeführt hatte.

Hirt blieb in dieser Hinsicht jedoch eine Ausnahme, auch wenn andere Anatomen wie Max Clara (Leipzig/München) oder Hermann Stieve (Berlin) ebenfalls ethische Grenzen überschritten, indem sie nicht nur post mortem Untersuchungen an Hingerichteten vornahmen, sondern ihr Wissen um den bevorstehenden Tod dieser Menschen für ihre Forschungszwecke nutzbar machten.

Bei Robert Wetzel lag der Fall anders. Auch er war, wie Hirt, ein überzeugter Nationalsozialist mit besten Kontakten zur SS. Doch stellte er seine anatomischen Forschungen nach seiner Berufung auf den Tübinger Lehrstuhl weitgehend ein. Zum einen galt sein intellektuelles Interesse seitdem hauptsächlich seiner ur- und frühgeschichtlichen Ausgrabungstätigkeit im Lonetal. Zum andern betätigte er sich als nationalsozialistischer Funktionär und Hochschulpolitiker. Mehrmals wandte er sich direkt an Heinrich Himmler, um dessen Protektion gegenüber anderen Wissenschaftlern zu erhalten. Die Möglichkeit, als Ordinarius direkt beim Chef der deutschen Polizei und Befehlshaber bewaffneter Kampfverbände intervenieren zu können, ist eine Besonderheit der NS-Herrschaft. Sie deutet an, welche weitgehenden Handlungsmöglichkeiten selbst einem Tübinger Anatomieprofessor grundsätzlich offenstanden. Mit welchem Erfolg sie tatsächlich vollzogen wurden, lässt sich aufgrund der fragmentarischen Überlieferung in den Archiven nicht abschließend klären. Sie zeigen aber, welchen Rahmen wir bei unserer Forschung immer in Betracht ziehen müssen.