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»Ortsarme«

Bedeutung der »Ortsarmen« für die Anatomie

Am 23. April 1938 musste Robert Wetzel, damals seit guten anderthalb Jahren Direktor der Tübinger Anatomie, eine Übersicht über die Leicheneingänge seines Instituts an den Universitätsrektor Hermann Hoffmann schicken. Aus den folgenden Zeilen geht sehr deutlich hervor, von welchem Personenkreis der anatomische Betrieb besonders abhängig war:

»In den letzten 5 Jahren sind an die Tübinger Anatomie durchschnittlich 68 Leichen jährlich abgeliefert worden. Aus Strafanstalten kamen davon 15 + Vaihingen 31 + Hingerichtete 12 = 58 = 17 %. Ohne den unsicheren und beschränkt verwendungsfähigen Anteil an Hingerichteten nur 46 = 15 %. Dagegen stehen 163 Ortsarme, die allein fast 48%, also rund die Hälfte aller Leichen ausmachen; es kommt dazu, dass auch unter den 19 % Leichen aus Armenhäusern und Heilanstalten, sowie unter den restlichen 17 % Selbstmördern die meisten ebenfalls als ›Fürsorgeleichen‹ zu gelten haben.«

Das in Wetzels Bericht gezeichnete Bild des anatomischen Leichenwesens kann als geradezu klassisch bezeichnet werden. Es wäre 50 oder 100 Jahre zuvor auch nicht wesentlich anders ausgefallen. Denn es ist das Bild einer Klassengesellschaft. Dass die Anatomen noch in den 1930er und 1940er Jahren die Leichen schlicht als »Material« wahrnahmen, wird verständlich, wenn man sich die soziale Distanz vor Augen führt, welche die akademisch gebildeten, zumeist aus dem Bürgertum stammenden Wissenschaftler von den in Armut gestorbenen Menschen trennte.

»Ortsarme« als Residualkategorie

Bevor wir uns die weitere Entwicklung dieser Personengruppe anschauen, ist ein methodischer Hinweis notwendig. Analytisch stellen die »Ortsarmen« eine Residualkategorie dar. Wir haben ihr all jene Menschen zugeordnet, die nicht zweifelsfrei den anderen Abgabeorten und Verfolgtengruppen zugeordnet werden können. Es ist also gut möglich, dass wir im Zuge unserer weiteren Nachforschungen einzelne oder mehrere Personen, die wir heute den »Ortsarmen« zugeordnet haben, einer anderen Gruppe werden zuweisen müssen. So gibt das Leichenbuch bei neun Toten als Abgabeort Altshausen an. Dort aber befand sich mit dem Dornahof eine Außenstelle des »Arbeitshauses« Vaihingen. Waren es also eigentlich Insassen dieser Anstalt? Zumindest eine erste Sichtung des Vaihinger Einweisungsbuches konnte diesen Verdacht noch nicht erhärten, auch wenn zumindest zwei Personen dort zeitweise interniert waren. So gehen wir momentan davon aus, dass unter die Kategorie »Ortsarme« 258 Personen zu fassen sind, womit es sich tatsächlich, wie von Wetzel festgestellt, um die größte Gruppe unter den in die Anatomie verbrachten Menschen handelt. Gleichzeitig weist wohl keine andere Gruppe so disparate Merkmale auf wie die »Ortsarmen«.

Merkmale der Gruppe

An keiner anderen Personengruppe als den »Ortsarmen« wird das weite Einzugsgebiet der Tübinger Anatomie deutlich. Der Tübinger Leichenwagen steuerte im Süden Württembergs etwa Friedrichshafen, Wangen oder Leutkirch an, im Westen Freudenstadt, Calw oder Maulbronn, im Norden Öhringen, Bad Mergentheim oder Künzelsau, im Osten schließlich Ulm, Geifertshofen oder Ellwangen an. In der Liste finden sich zudem nur vier Orte, aus denen die Anatomie mehr als zehn Leichen bezog: Stuttgart (12), Heilbronn (14), Ludwigsburg (18) und Tübingen (28). Berücksichtigt man aber, dass die Toten aus Tübingen fast ausschließlich in der Chirurgischen und Medizinischen Klinik verstorben waren, relativiert sich die Bedeutung dieses Ortes. Denn nur einer der Verstorbenen war auch tatsächlich in Tübingen geboren, die Übrigen dürften nur zur Behandlung dorthin verbracht worden sein.

Ähnlich wie bei den Toten aus dem »Arbeitshaus« Vaihingen dominieren bei den »Ortsarmen« die im hohen Alter Gestorbenen. Nur etwa 18 Prozent von ihnen hatten das 50. Lebensjahr nicht erreicht. Als Jüngster aus dieser Gruppe war Johann Benesch am 14. März 1936 nur zehn Tage vor seinem 21. Geburtstag einer Krankheit erlegen. Die älteste »Ortsarme«, Anna Maria Schöttle, war im Sommer 1933 im hohen Alter von 88 Jahren verstorben. Sie war eine von insgesamt 22 Frauen, womit der Frauenanteil dieser Gruppe bei 8,5 Prozent und damit gute drei Prozent über dem Anteil an Frauen unter der Gesamtgruppe aller in die Anatomie verbrachten Personen liegt.

»Ortsarme« als Indikator eines Paradigmenwechsels?

Welche quantitativen Veränderungen lassen sich nun bei den »Ortsarmen« feststellen? Bei der Zahl der jährlichen Zugänge fallen sofort mehrere Zäsuren auf: 1933, 1939 und 1942. Dass gleich 1933 die höchste Zahl zu verzeichnen ist, dürfte an den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gelegen haben. Sie schmälerte einerseits die finanziellen Mittel der Armen, so dass sich weniger Menschen eine normale Bestattung leisten konnten. Für das Anatomische Institut brachte es den Vorteil mit sich, bei »Ortsarmen« keine Wohlfahrtsabgabe entrichten zu müssen. Sie wurde fällig, wenn Leichen aus Anstalten abgeholt wurden. Um zu bewerten, ob der Leichenzugang des Jahres 1933 tatsächlich außergewöhnlich hoch war, müssten freilich Daten für die Jahre der Weimarer Republik erhoben werden. Wichtig bleibt aber, dass diese Zahl während der NS-Herrschaft nicht übertroffen werden sollte. Vielmehr erreichte die Zahl der jährlich in die Anatomie verbrachten »Ortsarmen« 1939 ein deutlich niedrigeres Niveau. Während immer weniger »Ortsarme« in die Tübinger Anatomie kamen, stieg die Zahl der Toten aus dem »Arbeitshaus« Vaihingen an. Ab 1942 spielten die »Ortsarmen« schließlich kaum noch eine Rolle für die Anatomen. Die Vermutung liegt nahe, dass einerseits viele Arme zwischenzeitlich in »Arbeitshäusern« oder sogar in »Konzentrationslagern« inhaftiert waren. Zugleich dürfte der einsetzende Treibstoffmangel die Abholung einzelner Leichen aus dem ganzen Südwesten schlicht unwirtschaftlich gewesen sein. Schließlich lieferten nun Kriegsgefangenenlazarette und -lager, die Gestapo, die zentrale Hinrichtungsstätte in Stuttgart, Heil- und Pflegeanstalten und Gefängnisse Leichen in großer Zahl nach Tübingen.

Hier zeichnete sich nun tatsächlich ein Paradigmenwechsel im anatomischen Leichenwesen ab. Schon 1873 war es im Württemberger Parlament zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung um die zwangsweise Abgabe der »Ortsarmen« in die Anatomie gekommen. Denn sie hatten sich in den Augen vieler zu Lebzeiten nichts zuschulden kommen lassen, das eine solche Behandlung nach ihrem Tod gerechtfertigt hätte. Die durch Suizid aus dem Leben Geschiedenen hatten immerhin gegen die christliche Moral verstoßen, Hingerichtete ein Kapitalverbrechen begangen, sie hatten in den Augen der Zeitgenossen nicht nur ihr Leben, sondern eben auch ihren Körper verwirkt. Die Befürworter der überkommenen Praxis hatten schon damals Mühe, ihre Position zu verteidigen. Ihr einzig schlagendes Argument war, dass ohne den Zugriff auf die Leichen der Armen der anatomische Betrieb eingestellt werden müsse. Dies sicherte den Anatomen schließlich für die nächsten 60 Jahre die Verfügungsgewalt über die »Ortsarmen«. Ab 1933 sahen sie sich dann mit der Volksgemeinschaftspropaganda des NS-Regimes konfrontiert. 1938 war Kurt Gerstein, damals selbst als Medizinstudent in der Tübinger Anatomie vor Ort, über den dortigen Umgang mit armen »Volksgenossen« derart entsetzt, dass er dem Reichsinnenminister ein Memorandum mit grundlegenden Reformvorschlägen schickte. Ab 1941 hatten die Anatomen aufgrund der immer radikaleren Gewaltherrschaft des NS-Regimes die Möglichkeit, die klassenbasierte Leichenbeschaffungspraxis rassistisch zu kaschieren. Nicht mehr »würdige« Arme kamen nun in die Anatomie, sondern als »asozial« Ausgegrenzte, Psychiatrieinsassen, vor allem aber Ausländer: osteuropäische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Rotarmisten.


Literatur:

  • Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 8. Angefangen: 1.I.32. Beendigt: 31.12.1942, in: UAT 174/8.
  • Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 9. 1943-1968, in: UAT 174/37.
  • Robert Wetzel an den Rektor der Universität Tübingen, 23.4.1938, in: UAT 174/123.
  • Udo Rauch, Die Toten des Gräberfeldes X auf dem Stadtfriedhof Tübingen. Ein Verzeichnis, Tübingen 2019.
  • Mathias Schütz, Doppelte Moral. Der Medizinstudent Kurt Gerstein und die Geschichte des anatomischen Leichenwesens in Deutschland, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 26(2018), S. 185–212.
  • 56. Sitzung. Stuttgart, Montag den 17. Februar 1873, unter dem Vorsitze des Präsidenten Fürsten v. Waldburg-Zeil-Trauchburg, in: Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Standesherren vom 30. October 1872 bis 21. März 1873. Amtlich herausgegeben. Zweiter Protokoll-Band. Erstes Heft. Stuttgart o.J., S. 959-1006.