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Gefängnisinsassen

Wie kamen die toten Häftlinge nach Tübingen?

Nicht nur zum Tode verurteilte und hingerichtete Häftlinge kamen in die Tübinger Anatomie, sondern auch gewöhnliche Strafgefangene, die vor Ende ihrer Haftzeit gestorben waren. Wie die mittellos Verstorbenen und die durch Suizid aus dem Leben Geschiedenen gehörten die Häftlinge zu den Gruppen, die seit Langem den anatomischen Anstalten zugewiesen wurden. Eine erste gesetzliche Grundlage bildete hierfür die Ministerialverordnung von 1862. Dennoch spielten die Insassen von Strafanstalten und Zuchthäusern für die Tübinger Anatomen im 19. Jahrhundert zunächst so gut wie keine Rolle. Im Gegensatz zu den Dorfarmen vermochten die Häftlinge nämlich durch ihre im Gefängnis verrichtete Arbeit so viel Geld zu erwirtschaften, dass sie sogenannte Leichenkassen als Sterbeversicherung für sich nutzen konnten, die ihnen eine würdige Bestattung garantierten. Im 20. Jahrhundert gab es diese Möglichkeit für Strafgefangene dann nicht mehr.

Kam ein Häftling zu Tode, benachrichtigte die jeweilige Haftanstalt zunächst die Angehörigen von dessen Ableben. Dieses Prozedere unterschied sich vom Ablauf her nicht von der in Heil- und Pflegeanstalten geübten Praxis. Konnten oder wollten die Angehörigen die anfallenden Beerdigungskosten nicht übernehmen, wurde der Verstorbene in das Anatomische Institut der Universität Tübingen verbracht. Vergleicht man die entsprechenden Schreiben der Haftanstalten mit denen der Heil- und Pfleganstalten, so zeigten die der Gefängnismitarbeiter deutlich weniger Empathie. Im Falle einer Strafgefangenen fand sich etwa der Verlobte, der damals ebenfalls eine Gefängnisstrafe absaß, zur Übernahme der Kosten bereit. Zu dieser Zeit war die Verstorbene jedoch bereits in der Tübinger Anatomie, und das Gefängnis machte keine Anstalten, ihre Freigabe zu bewirken. Umgekehrt ist ein Fall nachgewiesen, in dem die Heil- und Pflegeanstalt Weinsberg unverzüglich per Telegramm die Herausgabe einer verstorbenen Patientin von der Anatomie veranlasste, als sich herausgestellt hatte, dass die Beerdigungskosten aus deren Nachlass aufgebracht werden konnten.

Abgebende Strafanstalten

Insgesamt gaben die württembergischen Justizvollzugsanstalten während der NS-Zeit 69 Häftlinge an die Tübinger Anatomie ab. Unter ihnen waren lediglich vier Frauen. Drei dieser Frauen saßen Haftstrafen in der Gmünder Haftanstalt Gotteszell ab, eine verstarb im Tübinger Amtsgefängnis. Die mit Abstand wichtigsten Abgabeorte waren jedoch das Gefängnis Ludwigsburg mit seiner Krankenanstalt auf dem Hohenasperg (25), das Strafgefängnis Rottenburg (23) sowie die Sicherungsanstalt in Schwäbisch Hall (13). Je ein Gefangener war im Untersuchungsgefängnis Neresheim, im Gefängnis Balingen sowie im Oberamtsgefängnis Heilbronn gestorben. Bei letzterem handelte es sich um einen Insassen des »Arbeitshauses Vaihingen«, Karl Rubert. Nach seiner am 31. Oktober 1933 erfolgten Internierung in Vaihingen wurde er wenige Wochen später, am 4. Dezember, in das Heilbronner Gefängnis verlegt, das damals als Außenstelle des »Arbeitshauses« fungierte.

Häftlinge als NS-Opfer?

In den letzten Jahren rückten die Häftlinge verstärkt in den Fokus der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Die vom NS-Regime als »gefährliche Gewohnheitsverbrecher« Verfolgten wurden 2019 nach langem Bemühen vom Bundestag als NS-Opfer anerkannt. Ob dies jedoch für alle Inhaftierten der NS-Zeit gelten kann, ist fraglich. In diesem Zusammenhang sind zwei Befunde aus den Tübinger Fallbeispielen von Interesse. Betrachtet man Charakteristika dieser Gruppe, so fallen zwei Überschneidungen zu anderen NS-Opfergruppen sofort ins Auge. Die Anzahl der jährlich in die Anatomie verbrachten Häftlinge steigt mit Kriegsbeginn deutlich an, was sich noch ausgeprägter bei den Hingerichteten und Exekutierten beobachten lässt.

Anzahl der jährlich in die Tübinger Anatomie verbrachten Häftlinge. Eigene Darstellung.

Auch die relative Dominanz der jüngeren Alterskohorten entspricht der Verteilung bei anderen NS-Opfergruppen. Das jüngste Opfer, Izidorius Ambrazaitis, verstarb 1945 mit 17 Jahren in Rottenburg. Der bereits erwähnte Karl Rubert und Louis Schmidt erreichten mit 71 beziehungsweise 73 Jahren das höchste Lebensalter unter den Gefängnisinsassen. Beide waren noch in den Friedensjahren verstorben.

Erreichtes Lebensalter zum Zeitpunkt des Todes. Eigene Darstellung.

Die Todesursachen variieren bei der Gruppe der Strafgefangenen recht stark. Mindestens 16 erlagen einer Lungentuberkulose, wobei sich die meisten dieser Todesfälle während des Krieges ereigneten. Bei acht Häftlingen gibt das Leichenbuch der Anatomie Suizid als Todesursache an – auch sie fallen überwiegend in die Kriegsjahre. Die Suizidalität lag damit über derjenigen im »Arbeitshaus Vaihingen«, aber wohl unter derjenigen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.

Auch wenn die quantitative Auswertung für eine Zuordnung der Häftlinge zur Gruppe der NS-Opfer spricht, ist gegenüber einer pauschalen Beurteilung Vorsicht geboten. Zum einen ist die Stichprobengröße viel zu klein für belastbare Aussagen. Zum andern gilt es die jeweiligen Todesumstände wie auch die Urteilsgründe in Betracht zu ziehen. Zu Recht appellierte der Historiker Niklaus Wachsmann daher:

»Und auch Straftäter, die man heute noch ebenso verurteilen würde wie damals, sind im Nationalsozialismus oft Opfer brutaler Justizwillkür geworden. Ihre Geschichte ist somit unweigerlich komplex: Sie können nicht einfach als unschuldige Opfer rassistischer Verblendung oder als mutige Antifaschisten dargestellt werden – und dennoch: Verbrechen an Verbrechern sind auch Verbrechen.«

Zuchthaus Ludwigsburg und Gefängniskrankenhaus Hohenasperg

Zwei Strafanstalten sollen abschließend noch näher betrachtet werden, trugen sie doch maßgeblich zum Anstieg der in die Tübinger Anatomie verbrachten Häftlinge bei: Ludwigsburg und Rottenburg.

Aus Ludwigsburg erreichten die Anatomie zwischen 1936 und 1942 jedes Jahr mehrere Leichen. Das Ende der Leichenlieferungen erklärt den markanten Einbruch der oben dargestellten Kurve im Jahr 1943. Dies bedeutet allerdings nicht, dass im Ludwigsburger Zuchthaus seit Kriegsmitte weniger Insassen verstorben wären. Das Gegenteil trifft zu. Waren dort bis einschließlich 1940 jährlich höchstens neun Verstorbene, oft auch nur einer, 1932 sogar gar kein Toter zu beklagen, schnellten die Zahlen von 1941 bis 1944 rapide in die Höhe: 19, 56, 57, 64. 1945 kamen allein bis Kriegsende noch einmal 38 Häftlinge ums Leben. Viele Gefangene starben relativ jung an einer Lungentuberkulose. Dies weist auf eine deutliche Verschlechterung der Lebensbedingungen der Gefängnisinsassen hin, verbreitet sich diese Krankheit doch vor allem bei schlechten Ernährungs- und Wohnverhältnissen. Zu der starken Zunahme an Todesfällen in Ludwigsburg trug wohl auch eine vermehrte Überweisung tuberkulosekranker Sträflinge aus anderen Gefängnissen bei. Josef Bukofzer hatte beispielsweise seine allein aus rassistischen Gründen gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe zunächst in einem bayerischen Gefängnis verbüßt, bevor er auf den Hohenasperg verlegt wurde.

Trotz der starken Zunahme von Todesfällen schickte das Ludwigsburger Zuchthaus nach dem 15. März 1942 keinen Leichnam mehr nach Tübingen. Josef Dicht traf dieses Schicksal somit als letzten Häftling. Als angeblicher »Volksschädling« zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, nahm er sich im Alter von 45 Jahren das Leben. Warum weitere Leichentransporte aus Ludwigsburg ausblieben, wissen wir nicht. Ein Grund könnte in der Einrichtung eines eigenen Gefängnisfriedhofes liegen, den die r stark gestiegenen Todeszahlen erforderlich gemacht hatten. Interessanterweise bezog die Anatomie immerhin noch bis Anfang September die Leichen verstorbener Kriegsgefangener aus dem Ludwigsburger Lazarett, doch auch diese Abgaben fanden dann ihr Ende.

Gefängnis Rottenburg

Dass die Tübinger Anatomie in keinem Jahr mehr Häftlinge als 1945 erhielt, lässt sich leicht erklären: Treibstoffmangel hatte das Anatomische Institut von seinem weitgespannten Netz an Bezugsquellen abgeschnitten, wie Institutsdirektor Robert Wetzel gegenüber dem Tübinger Wohlfahrtsamt im November 1944 klagte.

Schreiben Robert Wetzels an das städtische Wohlfahrtsamt Tübingen, 8.11.1944. UAT 174/123.

Abhilfe schaffte das Gefängnis im benachbarten Rottenburg. Warum aber konnte diese Strafanstalt in so kurzer Zeit so viele Leichen zur Verfügung stellen? Weil die Häftlinge dort kurz vor Kriegsende regelrecht zugrunde gerichtet wurden. Seit Mitte 1944 mussten sie für Daimler Zwangsarbeit im Rottenburger Steinbruch leisten, denn dorthin sollte ein Teil der Sindelfinger Produktionsstätten des Konzerns als »Unternehmen Jaspis« ausgelagert werden. Auch im Gefängnis selbst waren die Zustände unhaltbar. Kranken wurde eine angemessene medizinische Behandlung verwehrt, die Versorgung war trotz der anstaltseigenen Landwirtschaft miserabel, und der Anstaltsleiter stachelte seine Wärter zu Gewalt gegenüber den Insassen an. Nach dem Krieg brachte die französische Besatzungsmacht diese Vorgänge im Rahmen des Rastatter Prozesses zur Anklage. Unter den in Rottenburg zu Tode gekommenen Menschen befanden sich fast nur Ausländer, vor allem Litauer. Ausgerechnet diese Leichen, die bei Kriegsende offenbar noch keine Verwendung gefunden hatten, wurden in den ersten Nachkriegsjahren dem französischen Lazarett in Tübingen zu Ausbildungszwecken übergeben. Auch sie müssen ohne Zweifel als Opfer der NS-Gewaltherrschaft gelten.


Literatur

  • Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 8. Angefangen: 1.I.32. Beendigt: 31.12.1942, in: UAT 174/8.
  • Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 9. 1943-1968, in: UAT 174/37.
  • Horst Brandstätter, Asperg. Ein deutsches Gefängnis, Berlin 1978.
  • Benigna Schönhagen, Das Gräberfeld X. Eine Dokumentation über NS-Opfer auf dem Tübinger Stadtfriedhof, Tübingen 1987.
  • Wigbert Schuberth, Der Schlüssel zum Schloss. Die Chronik des Rottenburger Gefängnisses, Frankfurt am Main 2017.
  • Totenbuch (Verzeichnis der verstorbenen Gefangenen 1851-1945), mit Beilagen, in: StAL E 356 d I Bü 167.
  • Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006.