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Menschliche Körperreste

Menschliche Körperreste

Die Zahl der bei Kriegsende in der Anatomie noch vorhandenen Körperreste ist nicht bekannt. Direkt nach dem Krieg sorgten die Alliierten dafür, dass noch vorhandene tote Ausländer in ihre jeweiligen Heimatländer überführt oder auf andere Friedhöfe, etwa den russischen Soldatenfriedhof in Münsingen, umgebettet wurden. Einige Leichen wurden aber auch noch 1947 an das französische Lazarett in Tübingen abgegeben. Was mit den ebenfalls noch vorhandenen Makro- und Mikropräparaten geschah, sollte erst Jahrzehnte später Aufmerksamkeit erhalten und in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten.

Präparatebestattung 1990

1988/89 äußerten Medizinstudenten den Verdacht, noch immer an Präparaten von NS-Opfern ausgebildet zu werden. Die Medienberichte darüber riefen weltweiten Protest hervor. Daraufhin setzte die Universität eine externe Kommission zur Überprüfung der Anatomischen Sammlung ein. Auf deren Empfehlung und auf Anweisung des baden-württembergischen Wissenschaftsministeriums sollten sämtliche Präparate aus der Anatomie sowie allen medizinischen Sammlungen der Universität entfernt werden, bei denen der Verdacht nicht eindeutig zu widerlegen war, dass sie von NS-Opfern stammen könnten. Daraufhin wurden aus der Anatomie, der HNO-Klinik und dem Pathologischen Institut Präparate ausgeschieden und am 5. Juli 1990 anonym und im kleinen Kreis im Gräberfeld X beigesetzt. Dabei wurde ein Gedenkstein mit folgendem Text enthüllt:

»Verschleppt, Geknechtet, Geschunden
Opfer der Willkür oder verblendeten Rechts
Fanden Menschen Ruhe erst hier
Von ihrem Leib noch
Forderte Nutzen eine Wissenschaft
Die Rechte und Würde des Menschen nicht achtete
Mahnung sei dieser Stein den lebenden
Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen
1990«.

Vier Tage später organisierte die Universität eine öffentliche Gedenkveranstaltung mit über 500 Besuchern, bei der der emeritierte Direktor des Neuropathologischen Instituts und ehemalige Rektor der Universität, Prof. Dr. Jürgen Peiffer eine viel beachtete Gedenkrede hielt. Wenige Tage später zerstörten Rechtsradikale die Gedenkplatte, die rasch wieder ersetzt wurde.

Das Vorgehen der Universität Tübingen, insbesondere die Überprüfung der Sammlungen durch eine externe Expertenkommission und das Zugrundelegen eines weiten Opferbegriffs setzte bundesweit Impulse. Auch an anderen Anatomien begann daraufhin die Aufarbeitung der Institutionengeschichte mit Blick auf die NS-Zeit.

Sammlung Ostertag

Ende 2020 rückte diese Tübinger »Pioniertat« erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit, als der britische Forscher und Medizinhistoriker Paul Weindling im renommierten Medizinhistorischen Journal den Verdacht äußerte, dass 1990 bei der Bestattung der Präparate in Tübingen stillschweigend auch Überreste bestattet wurden, die von Kindern stammen, die im Rahmen der »Kindereuthanasie« getötet wurden. Die Gehirne von mehr als hundert Kindern aus der Kindernervenklinik Wiesengrund der Heilstätten Wittenau bei Berlin hatte der Pathologe Berthold Ostertag seziert. Bei Kriegsende kam er als Heerespathologe an das Standortlazarett nach Tübingen und hat hier nach Kriegsende das Institut für Hirnforschung an der Universität Tübingen aufgebaut und geleitet. Aus diesem Institut ging das Neuropathologisch Institut hervor, in dessen Leitung ihm Jürgen Peiffer folgte.

Der Verbleib der Sammlung Ostertag ist bislang unbekannt. Er wird zurzeit überprüft.