Insassen des »Arbeitshauses Vaihingen«
Mit etwa 16 Prozent aller während der NS-Zeit in die Tübinger Anatomie verbrachten Verstorbenen war das »Arbeitshaus Vaihingen« die wichtigste institutionelle Bezugsquelle von Leichen für die Anatomie Tübingen. Eine solche Bedeutung erlangte die 1842 gegründete Einrichtung nur aufgrund der sozialrassistischen Verfolgungspolitik des NS-Regimes. Schon unmittelbar nach der Machtübergabe an die NSDAP schnellten die Internierungszahlen in Vaihingen in bis dahin nicht gekannte Höhen. 1933 kamen 346 Männer zwangsweise in die Anstalt, ein Jahr später sogar 431. Im letzten Jahr der Weimarer Republik hatte die Zahl dagegen bei lediglich 58 Einweisungen gelegen, wobei die Zahlen vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise interessanterweise doppelt so hoch gewesen waren. Dies war ein deutschlandweiter Trend. Auch andernorts waren »Arbeitshäuser« zu dieser Zeit schlecht belegt, in Preußen standen gar viele vor der Insolvenz.
Schon 1937 erreichte die Zahl der jährlichen Internierungen wieder das Niveau des Jahres 1927. Ab 1938 sanken die Zahlen dann rapide ab und erreichten 1941 mit 16 Zwangseinweisungen einen vorläufigen Tiefpunkt.
Funktionswandel der Institution »Arbeitshaus« in der frühen NS-Zeit
Dieser kurze Überblick verweist auf die sich rasch ändernde Rolle der Institution »Arbeitshaus« während der NS-Zeit. Die außergewöhnlich hohen Zahlen an Internierungen in den Jahren 1933 bis 1936 stehen im Kontext der vom NS-Regime betriebenen Armenbekämpfung unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise. Damals wurden nicht nur mehr Männer in diese Einrichtung verbracht, sie mussten auch immer länger dort bleiben. Denn die in der Weimarer Republik gültige Beschränkung auf zwei Jahre galt seit 1934 nur noch für die Ersteinweisung. Alle übrigen konnten auf Grundlage des »Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung« lebenslänglich interniert werden. Führt man sich die Gründe für die Internierung vor Augen – fast immer handelte es sich um »Bettel« und »Landstreicherei« – tritt die vom NS-Regime betriebene Kriminalisierung von Armut deutlich zutage. Dieser Wandel zeigte sich auch bei der einweisenden Institution. Hatte die Festsetzung der Verweildauer im »Arbeitshaus« im Kaiserreich und in der Weimarer Republik noch im Ermessensspielraum von Polizeibehörden und Oberämtern gelegen, setzten seit der Gesetzesänderung 1934 Amtsrichter die Haftdauer fest. Schon in dieser Frühphase der NS-Herrschaft trat die Radikalisierungsbereitschaft der Justiz zutage, denn das »Einweisungsbuch« der Vaihinger Anstalt verzeichnete in den allermeisten Fällen als vorgesehene Aufenthaltsdauer »unbest.«, Entlassungen verzeichnete es kaum noch. Dennoch wurde die Internierung weiterhin als Instrument der »korrektionellen Nachhaft« ausgegeben, auch wenn das »Arbeitshaus« gerade diese traditionelle Funktion im NS-Staat schon frühzeitig abgelegt hatte. »Aus zeitlich begrenzter Besserungshaft war Dauerverwahrung »asozialer Volksschädlinge« geworden«, wie der Historiker Wolfgang Ayaß feststellte.
Die Dauer, welche die in Vaihingen Verstorbenen und auf dem Gräberfeld X Bestatteten im »Arbeitshaus« verbrachten, schwankte zwischen vier Tagen (Friedrich Mast) und 9 Jahren, 4 Monaten und 3 Tagen (Johann Frank). 59 Personen verstarben innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Einweisung, also innerhalb des in der Weimarer Republik erlaubten Einweisungszeitraums. 103 Männer mussten aber deutlich mehr Zeit in Vaihingen absitzen. Viele Insassen hatten schon mehrere Aufenthalte in Vaihingen hinter sich, einige waren überdies in Kislau eingesessen, das während der Weimarer Republik als »Arbeitshaus« gedient hatte, bevor es die Nationalsozialisten in ein Konzentrationslager umfunktionierten.
Außenstellen des »Arbeitshauses«
Für solch hohe Insassenzahlen war das »Arbeitshaus« nicht ausgelegt. Es nahm dadurch für einige der internierten Männer den Charakter einer Drehscheibe an. So fungierte die Vaihinger Anstalt 1933 etwa als Durchgangsstation für politische Gefangene, die im März verhaftet worden waren und später ins KZ Heuberg verbracht wurden. Aber auch die aus sozialrassistischen Gründen in Vaihingen festgehaltenen Männer stellten die Anstalt vor Kapazitätsprobleme. Sie wurden mithilfe von Außenstellen gelöst. Für mehrere Monate bis zu über einem Jahr wurden Insassen an die »Arbeiterkolonien« in Erlach oder Dornahof, in die Bruderhausanstalt Fluorn, aber auch an die Gefängnisse in Heilbronn und Vaihingen überstellt. Daneben sind im »Einweisungsbuch« Verlegungen in das Gefängnis Rottenburg dokumentiert, das in der Literatur nicht als Außenstelle des »Arbeitshauses« geführt wird.
Erneuter Funktionswandel ab 1938
Der nächste Einschnitt erfolgte für die Institution »Arbeitshaus« 1938, als erstmals während der NS-Herrschaft weniger als 100 Männer in einem Jahr eingewiesen wurden. Dies lag aber keinesfalls an einer Entschärfung der gegen mittellose und nicht sesshafte Menschen gerichteten Politik des Regimes, im Gegenteil. Statt in »Arbeitshäuser« kamen die während der »Aktion Arbeitsscheu Reich« festgenommenen Personen direkt in Konzentrationslager. Bis zum Kriegsbeginn stellten die damals so genannten »Asozialen« die größte Gruppe unter den KZ-Häftlingen und trugen so dazu bei, den Fortbestand dieser spezifischen Einrichtung der NS-Gewaltherrschaft zu sichern.
Für Vaihingen bedeutete diese Entwicklung, dass die Anstalt immer mehr des Charakters eines »Arbeitshauses« verlustig ging. 1941 wurden etwa 150 französische Kriegsgefangene dort interniert. Von 1942 bis Kriegsende kamen 568 Strafgefangene hinzu, die zumeist nicht mehr arbeitsfähig, das heißt: krank waren. Hatte das »Arbeitshaus« in den ersten Jahren des NS-Regimes noch Gefängnisse als Außenstellen nutzen müssen, war es nun selbst zu einer Außenstelle der Justizvollzugsanstalten geworden. Interessanterweise verzeichnete das »Einweisungsbuch« des »Arbeitshauses« weder die Kriegsgefangenen noch die Häftlinge als Zugänge.
Lebensumstände in Vaihingen
Unter den Strafgefangenen befanden sich überwiegend aus Westeuropa stammende Gefangene, aber auch politisch Verfolgte. Sie berichteten nach Kriegsende von körperlichen Übergriffen durch die Wärter, harten Strafen bis hin zu Vernachlässigungen, die bewusst zum Tod führen sollten. Allein 1944 kamen 111 Männer in Vaihingen ums Leben. Ermöglicht und geduldet wurden diese Übergriffe durch Christian Walther, der als Polizeibeamter und als ein überzeugter Nationalsozialist das »Arbeitshaus« seit 1937 leitete.
Keiner der verstorbenen Häftlinge oder Kriegsgefangenen wurde an die Tübinger Anatomie abgegeben. Dieses Schicksal war allein den »Arbeitshäuslern« vorbehalten. Wie es scheint, waren für sie die Lebensverhältnisse besser als für die beiden anderen Gruppen. Bei Friedrich Zentler, der am 14.9.1940 mit 64 Jahren verstarb, ist im »Einweisungsbuch« sogar vermerkt: »Im Asyl des Arbeitshauses gestorben.« Tatsächlich sah das einschlägige Gesetz von 1934 ein solches »Asyl« vor, das allerdings nur Arbeitsunfähigen vorbehalten war. Aber auch wenn man die Gesamtgruppe der von Vaihingen nach Tübingen verbrachten Männer in den Blick nimmt, sticht der relativ hohe Altersdurchschnitt ins Auge. Nur sieben von ihnen waren vor Vollendung des 40. Lebensjahrs verstorben. Zwei von ihnen hatten ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt, einer war bei einem Fluchtversuch ertrunken. Umgekehrt erreichten 93,75 Prozent aus dieser Gruppe mindestens das 60. Lebensjahr. Auch hierbei handelte es sich um keine Vaihinger Besonderheit. Vielmehr verzeichnete die Institution »Arbeitshaus« reichsweit eine Überalterung ihrer traditionellen Insassen, nachdem jüngere Delinquenten entweder gleich in Konzentrationslager eingesperrt oder, während des Krieges, in »Bewährungsbataillonen« der Wehrmacht kämpfen mussten.
Tote aus Vaihingen in der Tübinger Anatomie
Bei der Anatomie in Tübingen schlug sich die Entwicklung, die die Institution »Arbeitshaus« im NS-Staat durchlief, erst zeitversetzt nieder. Die Anzahl der aus Vaihingen bezogenen Leichen nahm ab 1934 stetig zu, bis 1940 erstmals das Maximum von 25 Verstorbenen einem Jahr erreicht wurde. Wie das »Arbeitshaus« verzeichnete auch die Tübinger Anatomie 1941 einen Rückgang. Sie erhielt damals 16 Tote, also genau so viele wie in diesem Jahr in Vaihingen als Neuzugänge eingewiesen wurden. Danach stieg die Zahl der jährlich nach Tübingen überführten Leichen aber wieder an. Der Bedeutungsverlust der Einrichtung »Arbeitshaus« blieb letztlich ohne Auswirkungen auf die Anatomie, da der Krieg bereits zu Ende war, bevor dies hätte wirksam werden können.
Die Anatomie im Spannungsfeld von class und race
Legt man die oben abgebildete Kurve zugrunde, so zeigt sich darin wohl eine Institutionalisierung von Armut. Wer in den 1920er oder frühen 1930er Jahren als »Dorfarmer« in die Anatomie gekommen war, kam ab 1938 vermutlich als »Arbeitshäusler« dorthin.
Die Frage nach der Legitimationsgrundlage für die Einweisung mittellos Verstorbener in die Anatomien hatte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder zu leidenschaftlichen Debatten geführt. Das württembergische Parlament hatte diese Frage Anfang 1873 eingehend erörtert. Die Gegner dieser Praxis sahen es als ein Gebot der Humanität, auch Armen ein würdiges Begräbnis zu gewähren. Die Befürworter verwiesen auf den Nutzen, den die Toten der Wissenschaft leisteten. Für das NS-Regime war diese Frage ebenfalls brisant. Mit der propagierten »Volksgemeinschaft« war es nur schwer vereinbar, dass weiterhin vor allem die Körper der Ärmsten ohne deren Einverständnis den Anatomien zur Verfügung gestellt wurden. Es bleibt erklärungsbedürftig, warum die Tübinger Anatomie während des Krieges weiterhin auf diese nahezu ausschließlich deutsche Gruppe zurückgriff, statt sich der vielen ausländischen Toten zu bedienen. Diese Alternative hätte der zutiefst rassistischen Prägung der NS-Ideologie jedenfalls weitaus näher gelegen.
Warum kamen also weiterhin mittellose verstorbene Deutsche in die Tübinger Anatomie? Ein wissenschaftliches Interesse an alten Menschen, welches das Arbeitshaus befriedigen konnte, dürfte wohl kaum bestanden haben. Viel näher liegt eine andere Vermutung: Nach dem Krieg würde das »Arbeitshaus« weiter bestehen, während der Zugriff auf Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen dann womöglich enden würde. Oder wie es ein Ministerialbeamter 1944 formuliert hatte: Mit dem »Wegfall der außergewöhnlichen, durch den Krieg bedingten Verhältnisse« wurde gerechnet.
Literatur:
- Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 8. Angefangen: 1.I.32. Beendigt: 31.12.1942, in: UAT 174/8.
- Anatomisches Institut Tübingen, Leichenbuch Nr. 9. 1943-1968, in: UAT 174/37.
- Wolfgang Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995.
- Einweisungsbuch Nr. 81/1-99/16, angelegt 1925, geführt bis 1944, in: StAL E 188 b Bd. 1.
- Klaus D. Mörike, Geschichte der Tübinger Anatomie, Tübingen 1988.
- Udo Rauch, Die Toten des Gräberfeldes X auf dem Stadtfriedhof Tübingen. Ein Verzeichnis, Tübingen 2019.
- Der Reichsminister des Innern an den Herrn Württembergischen Innenminister, 7. März 1944, in: UAT 174/123.
- Manfred Scheck, Zwangsarbeit und Massensterben. Politische Gefangene, Fremdarbeiter und KZ-Häftlinge in Vaihingen an der Enz 1933 bis 1945, Berlin 2014.
- Michael Wildt/Marc Buggeln, Lager im Nationalsozialismus. Gemeinschaft und Zwang, in: Michael Wildt, Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019, S. 223-258.