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Die Toten aus der Anatomie

Während der NS-Zeit wurden 1078 Menschen nach ihrem Tod an das Anatomische Institut der Universität Tübingen geliefert. Keiner von ihnen kam aus eigenem Entschluss dorthin. Sie alle waren Betroffene einer seit der Aufklärung in zahlreichen Ländern geübten Praxis, für anatomische Lehr- und Forschungszwecke fast ausschließlich auf die Leichen mittellos verstorbener Menschen, Hingerichteter und Selbstmörder zurückzugreifen. Nur ein gutes Dutzend der Toten wurde von der Anatomie an Angehörige zur Beerdigung »freigegeben«, 19 gab die Anatomie im Oktober 1939 an das Anatomische Institut der LMU München ab.

Opfer der NS-Gewaltherrschaft

Hunderte dieser 1078 Menschen fielen der NS-Gewaltherrschaft zum Opfer. Es sind die 156 sowjetischen Kriegsgefangenen, die verhungerten, durch Arbeit und schlechte Versorgung zugrunde gerichtet oder erschossen wurden. Es sind die fast 100 polnischen Opfer, die als ehemalige Kriegsgefangene oder zivile Zwangsarbeiter rassistischen Strafgesetzen unterlagen. 45 von ihnen wurden von der Gestapo exekutiert oder von der NS-Justiz hingerichtet. 18 begingen Selbstmord, mindestens 3 weitere fanden einen gewaltsamen Tod. Es gilt auch für die meisten der 92 übrigen Hinrichtungsopfer. Zwar befinden sich Mörder unter ihnen, denen auch in der Weimarer Republik oder im Kaiserreich ein Todesurteil gedroht hätte, doch vollstreckte das NS-Regime spätestens mit Kriegsbeginn die Höchststrafe deutlich öfter als zuvor. Es gilt für die über 170 Personen umfassende Gruppe der Insassen des »Arbeitshauses Vaihingen«. Bei ihnen handelte es sich um mittellose, fast ausschließlich deutsche Männer, die zumeist wegen Bettels oder Landstreicherei ihrer Freiheit beraubt wurden. Sie fielen der sozialrassistischen Verfolgung des NS-Regimes zum Opfer. Und es gilt schließlich zumindest in Einzelfällen für die Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalten sowie der im Gefängnis Verstorbenen. Nicht immer aber ist die Unterscheidung zwischen einer normalen und einer gewaltsamen Todesursache leicht zu treffen.

Merkmale und Auswirkungen des Krieges

Welch große Auswirkung der Krieg auf die Anatomie hatte, zeigt sich schon an der Zahl der jährlich eingelieferten Leichen. Belief sich deren Zahl bis 1939 auf 55 bis 77 pro Jahr, bewegte sie sich zwischen 1940 und 1943 auf deutlich höherem Niveau. Allein 1941 erhielt die Anatomie 153 Leichen, also zwei bis drei Mal so viele wie zu Friedenszeiten. Erst als sich der Kriegsverlauf zugunsten der Alliierten änderte, begann sich auch die Versorgung der Anatomie mit Leichen zu verschlechtern. Dass 1945 nur noch 22 Verstorbene nach Tübingen kamen, lag freilich an der Befreiung der Stadt am 19. April durch französische Truppen. Die Anatomie verzeichnete erst am 18. Juli 1947 wieder eine neue Leiche.

Anzahl der jährlich in die Tübinger Anatomie verbrachten Leichen. Eigene Darstellung.

Auch einige Charakteristika veränderten sich durch den Krieg deutlich:

  • Kamen vor dem Krieg fast ausschließlich Deutsche in die Anatomie, waren es ab 1940 vor allem Menschen aus Osteuropa.
  • Der Anteil der Menschen, die gewaltsam zu Tode gekommen waren, stieg deutlich an. Verglichen mit 1940 verzehnfachte sich die Zahl der Hingerichteten im Jahr 1941, 1942 waren es gar 24-mal so viele wie 1940.
  • Verbunden damit nahm der Anteil junger Menschen deutlich zu.
  • Dagegen sank der Anteil der sogenannten Dorfarmen, die außerhalb von Institutionen starben. Die Bedeutung von Zwangsinstitutionen – Gefängnisse, Arbeitsanstalten, Lager, Lazarette – als Leichenlieferanten nahm zu.
  • Weit entfernte Abgabeorte verloren infolge der Treibstoffknappheit immer mehr an Bedeutung. 1945 lieferte nur noch das nahe gelegene Strafgefängnis Rottenburg Leichen an die Tübinger Anatomie. Diese Verstorbenen stammten jedoch mehrheitlich nicht aus der Region, sondern vor allem aus Litauen, aber auch aus den Niederlanden und Frankreich.

Diese Entwicklung legt die europäische Dimension des von den Nationalsozialisten geführten Rassenkrieges offen. Dennoch blieb auch der Klassencharakter erhalten, denn auch unter den Kriegsgefangenen, Hingerichteten und Zwangsarbeiter*innen waren die sogenannten kleinen Leute stark überrepräsentiert. Unverändert blieb ein weiteres Merkmal: Fast immer handelte es sich bei den Verstorbenen, welche die Anatomie in Empfang nahm, um Männer.