Wilhelm Heinrich Sutter
- Alter:
- 76 Jahre
- Namensschreibweisen:
-
Wilhelm Heinrich Sutter (Quelle: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659)
Wilhelm Sutter (Leichenbuch) - Geburtsort:
-
Murrhardt (07.02.1862)
- Todesort:
- Schussenried /Heilanstalt (29.09.1938)
- Todesursache:
- Gehirnschlag
- Nationalität:
- Deutschland
- Zuordnung:
- Patient:innen von Heil- und Pflegeanstalten
Schwierige Verhältnisse
Wilhelm Heinrich Sutter wurde am 7. Februar 1862 in Murrhardt, einer Kleinstadt im Schwäbisch-Fränkischen Wald nordöstlich von Stuttgart, geboren, von wo auch beide Eltern stammten. Er hatte sieben Geschwister, von denen drei bereits früh verstarben. Die familiären Verhältnisse, in denen er aufwuchs, waren schwierig, und schon im Kindesalter hatte er mit psychischen Problemen zu kämpfen. Wie sich in späteren Untersuchungen herausstellen sollte, war er im Alter von drei Jahren eine Treppe hinuntergestürzt. Ob dies seine mentale Verfassung beeinflusste, lässt sich nicht mehr klären.
Ungewisse Zukunft
Die Volksschule besuchte Wilhelm Sutter ohne größere Schwierigkeiten und entdeckte dabei das Singen für sich – er soll ein guter Sänger gewesen sein. Obwohl er die Schule erfolgreich absolvierte und sich damit gute Voraussetzungen für die Zukunft schuf, sollte es dennoch anders kommen. Ein halbes Jahr vor dem Abschluss brach er seine Lehre zum Schuhmacher ab. Er erzählte seiner Mutter, dass sein Meister ihm kein Essen gebe, worauf sie darauf bestanden habe, dass er die Ausbildung nicht mehr fortsetzte. Als er später in die Armee einberufen wurde, floh er nach Österreich und in die Schweiz. Zu dieser Zeit führte Sutter ein Wanderleben. Zurück in Deutschland konnte er zwar in Baden-Baden und Frankfurt am Main Arbeit als Schuhmacher finden, aber länger als ein Jahr angestellt war er nie. Den Kontakt zu seinen Geschwistern pflegte er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.
Leben am Rande der Gesellschaft
Noch bevor Sutter sein 20. Lebensjahr erreichte, geriet er mit dem Gesetz in Konflikt. Ab 1881 wurde er durch Straftaten wie Bettelei und Körperverletzung auffällig – insgesamt weist sein Strafregister 109 Einträge aus dem In- sowie drei aus dem Ausland auf. Unter anderem musste er insgesamt mehr als sechs Jahre seines Lebens in »Arbeitshäusern« verbringen. Ursprünglich waren »Arbeitshäuser« Besserungsanstalten für vermeintlich arbeitsunwillige Menschen. In der NS-Zeit wurden diese Einrichtungen jedoch zu Orten der Dauerverwahrung von als »asozial« diskriminierten und verfolgten Personen, die so aus der Öffentlichkeit entfernt wurden. In welchen »Arbeitshäusern« Wilhelm Sutter seine Strafen verbüßte, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Fest steht, dass er die Urteile nicht wehrlos akzeptierte. Er stand für sich ein und schrieb den verantwortlichen Richtern viele Briefe – aber ohne Erfolg.
Wunsch nach Freiheit
Sutters Lebenslauf verzeichnet diverse Aufenthalte in Heil- und Pflegeanstalten, wie in Lengerich und Warstein in Nordrhein-Westfalen (1911/12) sowie in Hub und Konstanz in Baden (1914/15). In Warstein und Hub hielt er sich jedoch nicht sehr lange auf, sondern beschloss jedes Mal zu fliehen. Am 21. Juli 1915 kam er nach einem Gefängnisaufenthalt in Konstanz in die dortige Heil- und Pflegeanstalt, nachdem das Gericht den Vorwurf einer »deutschfeindlichen Kundgebung« gegen ihn fallengelassen hatte. Am 22. Mai 1916 entließen ihn die Ärzte in die Obhut seines Bruders nach Stuttgart.
Aus dieser Zeit liegen keine weiteren Informationen vor, aber es kann angenommen werden, dass Sutter einen starken Freiheitssinn besaß. Die Entfernungen, die zwischen den verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten liegen, lassen darauf schließen, dass er sich nie lange an einem Ort aufhielt und weite Strecken zurücklegte. Womöglich fühlte er sich dazu aber auch gezwungen, denn bei einer Untersuchung äußerte er die Sorge, dass einer seiner Ärzte einen Geheimbund gegen ihn gegründet hätte und er verfolgt werden würde.
1928 hielt sich Sutter erstmals nachweislich in Tübingen auf – dem Ort, an den er nach seinem Tod überführt werden sollte. Damals kam er zur Beobachtung in die Universitätsnervenklinik. In einem Gutachten diagnostizierte der untersuchende Arzt psychische Erkrankungen, aber einen guten körperlichen Zustand. Darüber hinaus beschrieb er Sutter als einen unbekümmerten Menschen mit viel Humor und hielt fest: »Die Zukunft macht ihm wenig Sorgen. Außer seiner möglichst baldigen Freiheit äußert er keine Wünsche […].« Wann und mit welchen Auflagen er die Klinik verlassen durfte, bleibt unklar. Erst im darauffolgenden Jahr tritt er in den Quellen wieder in Erscheinung.
Prozess und Verurteilung
Am 9. Dezember 1929 kam es im Wirtshaus »Lamm« in Bezgenriet bei Göppingen zu einem folgenschweren Vorfall. Nachdem Sutter drei Liter Bier und einen Liter Most getrunken hatte, ging er ins »Handwerksburschenzimmer«, in dem er übernachten sollte. Zwei der drei Betten waren bereits belegt – in einem davon lag der Kutscher Josef T. Als sich Sutter in das Bett des zweiten Übernachtungsgastes, einem Korbmacher, legen wollte, zeigte ihm Josef T. das noch freie Bett. Völlig überraschend für diesen griff Sutter ihn an und verletzte ihn – zum Glück ohne bleibende Schäden für das Opfer. Sutter berief sich im Prozess am 22. Februar 1930 auf Notwehr und behauptete, dass Josef T. ihn zuerst angegriffen hätte.
Sutter wurde daraufhin wegen gefährlicher Körperverletzung zu sechs Monaten Haft verurteilt. In der Folgezeit schickte er zahlreiche Briefe an das Polizeiamt Ulm, um einen Freispruch zu erwirken. Das Landgericht Ulm ordnete eine neue psychiatrische Untersuchung an. Das neue Gutachten beurteilte ihn als »unzurechnungsfähig«, und hielt eine zwangsweise Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt für dringend erforderlich. Die Diagnose führte dazu, dass Sutter zwar freigesprochen, am 7. März 1930 jedoch in die Heil- und Pflegeanstalt Schussenried eingewiesen wurde. Dort verfasste er ein weiteres Mal Briefe an das Polizeiamt Ulm, in welchen er sich über seine aktuelle Situation beklagte: »Wie dem Polizeiamt in Ulm bekannt sein wird leide ich an sog. Gedankenlese. Da aber keine Besserung möglich ist […], so ersuche ich höflichst um womögliche Überführung in das Städt[ische] Krankenhaus in Ulm oder Tübingen Nervenklinik.«
Endstation Schussenried
Aus Schussenried floh Sutter nicht, sondern erledigte seine täglichen Aufgaben und arbeitete als Schuhmacher in der dortigen Werkstatt. Vergleicht man dies mit früheren Aufenthalten in Heil- und Pflegeanstalten, stellt sich die Frage, wieso er nun sein Verhaltensmuster änderte. Womöglich lag es an seinem Alter. Zum Zeitpunkt seiner Einweisung war Sutter bereits 68 Jahre alt und hatte dementsprechend vielleicht nicht mehr die Energie für einen Fluchtversuch. Sicher ist, dass er auch in Schussendried immer wieder in Auseinandersetzungen mit anderen Insassen verwickelt war, da diese sich seiner Meinung nach gegen ihn verschworen hätten. Wohlgefühlt hat sich Wilhelm Sutter in der Heil- und Pflegeanstalt wohl kaum, wie sich auch in seinen wiederholten Bitten um eine Verlegung nach Ulm oder Tübingen zeigt. Dazu kam es jedoch nie.
Im Laufe der Zeit wurden die Einträge in seiner Krankengeschichte immer seltener. Bis zum 28. September 1938 gestaltete sich sein Aufenthalt in Schussenried weitgehend unauffällig. An diesem Tag war er zum ersten Mal morgens nicht aus dem Bett aufgestanden. Obwohl eine Lähmung der rechten Hand auf einen Schlaganfall hindeutete, verordnete der Arzt lediglich absolute Bettruhe. Zugleich informierte er die Familie über den schlechten Zustand. Nur einen Tag später starb Wilhelm Sutter mit 76 Jahren an den Folgen des Schlaganfalls.
Überführung in die Tübinger Anatomie
Um eine mögliche Überführung in das Anatomische Institut in Tübingen vorzubereiten, kontaktierte der Medizinalrat Sutters Schwester. In dem Schreiben heißt es:
»Geehrtes Fräulein Sutter! Ihr Bruder, der sich seit 1930 in der hiesigen Anstalt befindet, hat heute einen Schlaganfall erlitten. Man weiß noch nicht, wie schwer die Sache ist, bei seinem vorgerückten Alter ist aber die Sache auf jeden Fall ernst. Wir wollten Ihnen nun Nachricht geben und fragen, ob noch weitere Anverwandte da sind, die an seinem Ergehen teilnehmen. Es müßte aber auch bald festgestellt werden, wenn seinerzeit die Anverwandten für die Beerdigung die Kosten übernehmen könnten, weil andernfalls nach den Bestimmungen die Leiche nach Tübingen verbracht werden muß. Es ist vorerst möglich, daß sich der Kranke noch einmal erholt, es kann aber auch sehr rasch zu Ende gehen.«
Da die Familie die Beerdigungskosten nicht aufbringen konnte, veranlasste die Verwaltung der Heil- und Pflegeanstalt noch am Todestag die Überführung von Sutters Leichnam in das Anatomische Institut in Tübingen.
Letztendlich wurde Sutters Leichnam nicht von den Tübinger Anatomen zur eigenen Lehre und Forschung verwendet. Aus dem Leichenbucheintrag geht hervor, dass ihn die Tübinger Anatomie ihren Münchner Kollegen und Kolleginnen im Jahr 1939 übergeben hatte. Dies hängt vermutlich mit den seit Beginn der NS-Zeit zurückgegangenen Studierendenzahlen zusammen. Hinzu kommt, dass die Universität Tübingen nach Kriegsbeginn vorübergehend geschlossen war. Die Anatomen hatten zu diesem Zeitpunkt also Leichen im Überfluss, weswegen sie mehrere Körper an die Münchener Kollegen weitergeben konnten.
Gastautorin: Sarah Schkatula, August 2024
Quellenverzeichnis
Abschrift des Gutachtens Lörcher, Ulm den 09.02.1930, S. 1–4, in: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659.
Abschrift der Krankengeschichte aus der Universitäts-Nervenklinik Tübingen, Tübingen den 03.12.1928, S. 1–10, in: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659.
Abschrift Nr. 91/30, S. 1–3, in: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659.
Bezirksamt Konstanz an die Grossh. Heil u. Pflegeanstalt bei Konstanz, 30. Juli 1915, in: StA Freiburg B 8221 Nr. 4144.
Brief an das Polizeiamt Ulm, Schussenried den 24.01.1931, in: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659.
Brief an die Heil- und Pflegeanstalt Schussenried, Backnang den 22.06.1938, in: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659.
[Heil- und Pflegeanstalt Konstanz] an das Bezirksamt Konstanz, 16. September 1927, in: StA Freiburg B 8221 Nr. 4144.
Krankengeschichte Nr. 3858, in: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659, S. 1–12.
Leichenbucheintrag Nr. 55, in: UAT 174/8.
Schreiben an R. Sutter, Stuttgart den 28.09.1938, in: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659.
Schreiben an R. Sutter, Stuttgart den 29.09.1938, in: StA Sigmaringen Wü 68/1 T 1 2659.
Literaturverzeichnis
Ayaß, Wolfgang, »Asoziale« im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995.
May, Johannes et al., »Euthanasie« in den staatlichen Heilanstalten Zwiefalten und Schussenried. Die Rechtfertigung, Vorbereitung und Durchführung der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« in der nationalsozialistischen Aktion T4, Zwiefalten 1991.
Schönhagen, Benigna, Das Gräberfeld X. Eine Dokumentation über NS-Opfer aus dem Tübinger Stadtfriedhof, Tübingen 1987.
Schönhagen, Benigna, Das Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof. Die verdrängte »Normalität« nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. In: Peiffer, Jürgen (Hrsg.): Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin des Dritten Reiches. Tübingen 1992, S. 68–92.