Iwan Semjonowitsch Nikitenko

Portraitfoto
Alter:
21 Jahre
Namensschreibweisen:
Iwan Semjonowitsch Nikitenko (Quelle: OBD Memorial)

Jwan Nikitenkow (Leichenbuch)
Geburtsort:
Tschortomlyk (20.08.1921) (Quelle: OBD Memorial)
Gebiet: Dnepropetrowsk
Todesort:
Tübingen /Lazarett (22.07.1943) (Quelle: Leichenbuch)
Todesursache:
Lungentuberkulose (Quelle: Leichenbuch)
Nationalität:
Ukraine (Quelle: OBD Memorial)
Zuordnung:
Kriegsgefangene
Ort der Gefangennahme:
Nurez (wohl um den 30.06.1941)

Iwan Nikitenko wurde am 20. August 1921 in der Zentralukraine im kleinen Ort Tschortomlyk geboren. Das liegt unweit der Hafenstadt Nikopol am Fluss Dnepr. Er gehörte, wie der Großteil sowjetischer Kriegsgefangener, der orthodoxen Kirche an. Anders als die meisten seiner Kameraden beim 222. Infanterieregiment war er vor dem Krieg nicht im landwirtschaftlichen Sektor tätig, sondern arbeitete als Elektriker.
Das genaue Datum seiner Gefangennahme ist unbekannt. Als Ort wurde auf der Personalkarte 1 »Nurzec« angegeben. Dabei handelt es sich um einen kleinen Fluss im heutigen Ostpolen, der in den Bug fließt. Mit dem Überschreiten des Bug begann der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941. Iwan Nikitenko geriet also nahezu unmittelbar nach dem Start des »Unternehmen Barbarossa« in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er wurde im Stammlager Ludwigsburg interniert und zur Zwangsarbeit in Ruhestein und Böblingen kommandiert.

Zwangsarbeit bei den »Karosseriewerken Reutter«

Nach seiner Arbeit in Böblingen und Ruhestein wurde er in den Jahren 1942/43 insgesamt zweimal bei den »Karosseriewerken Reutter« in Stuttgart-Feuerbach zu Arbeitseinsätzen (Arbeitskommandos 04176 und 3025) gezwungen. Insgesamt arbeitete er dort rund 16 Monate, unterbrochen von kurzen Lazarettaufenthalten im Reservelazarett Ludwigsburg. Bei Iwan Nikitenko überstieg, anders als bei vielen sowjetischen Kriegsgefangenen, die Dauer der Arbeitskommandos die der Lazarett- und Lageraufenthalte deutlich. Als Gründe für die Lazarettaufenthalte wurde auf seiner PK I »Grippe« angegeben, wobei es sich eher um frühe Stadien von Lungentuberkulose gehandelt haben dürfte. Für den wiederholten Einsatz bei den Karosseriewerken Reutter spielte wohlmöglich Nikitenkos Beruf des Elektrikers eine entscheidende Rolle. Seine Kenntnisse waren dort vielleicht besonders »nützlich«.

Krankheit und Tod

Iwan Nikitenko starb am 22. Juli 1943 im Kriegsgefangenenlazarett in Tübingen etwa einen Monat vor seinem 23. Geburtstag. Seine Leiche wurde an das Anatomische Institut in Tübingen übergeben, wo sie im Wintersemester 1944/45 benutzt wurde. Anschließend wurde sie auf dem Gräberfeld X begraben.

Exkurs: Stationen der Zwangsarbeit – Reutter ≠ Reutter

Eine stark gekürzte Fassung der Biografie von Iwan Nikitenko wurde im Schwäbischen Tagblatt veröffentlicht, woraufhin sich Frank Jung, Familienarchivar der Familie Reutter und Archivar bei der Porsche AG in Stuttgart, beim Forschungsprojekt meldete. Er wies auf einige Ungenauigkeiten bezüglich der Firma Reutter und ihres Nachfolgeunternehmens »RECARO« bzw. dem Lizenzkäufer »Reutter Karosserie by Erlkönig Classic« hin. Die betreffenden Stellen wurden in der Biografie gestrichen und werden nachfolgend erläutert.
Auf der Rückseite der Personalkarte I zu Iwan Nikitenko ist unter den Arbeitskommandos, das am 23.02.1942 begann, »Karosseriewerke Reutter Stgt. Feuerbach« vermerkt. Die Nummer des Arbeitskommandos ist mit 04176 bzw. 3025 angegeben. Das Arbeitskommando 3025 taucht wenige Zeilen darunter erneut auf, wieder mit der Ortsangabe »Feuerbach«. Anhand einer Übersicht von Annette Schäfer, die sämtliche Arbeitskommandos enthält, erweist sich die Verortung des Arbeitskommandos 3025 nach Stuttgart-Feuerbach als richtig. Das Arbeitskommando 04176 taucht allerdings nicht in ihrer Liste auf.
Aus der Nachricht des Archivars ging jedoch hervor, dass es zwei Karosseriewerke mit dem Namen »Reutter« in Stuttgart gab. In Feuerbach war demnach zum Zeitpunkt der Arbeitseinsätze Nikitenkos und eines weiteren auf dem Gräberfeld X beerdigten sowjetischen Kriegsgefangenen nicht das »Karosseriewerk Reutter« sondern die »Fa. Friedrich Reutter Wagenfabrik« ansässig.

Nach umfassender Recherche konnten Details zur Wagenfabrik von Friedrich Reutter in Erfahrung gebracht werden. In einem Sammelband »Wissenschaft und Technik als Motoren unternehmerischen Handelns« aus dem Jahr 2008 findet sich im Kapitel mit dem treffenden Titel »Beispiele für Quellenprobleme in der Unternehmensgeschichte« ein kurzer Aufsatz von Jörg Baldenhofer mit dem Titel »Fahrzeugwerk Fr. Reutter Stuttgart-Feuerbach”. Während das »Karosseriewerk Reutter« und die nachfolgenden Unternehmen internationale Bekanntheit erlangten wurde die gleichnamige Wagenfabrik fast vollständig vergessen und selbst von Experten verwechselt beziehungsweise als identisch erachtet.
Adam Friedrich Reutter gründete seine Firma bereits 1865 unter dem Namen »Wagenfabrik Reutter« im Westen Stuttgarts (Schlossstraße 67). Sein Sohn, Hermann Friedrich Reutter, stellte dann im Jahr 1905 Wilhelm Gottlob Reutter nach dessen Ausbildung zum Sattler als Meister ein. In den Produktionshallen der »Wagenfabrik Reutter« baute er ab 1906 eine eigene Firma auf und gründete schließlich im Jahr 1907 die »Wilhelm Reutter Karosserie- und Radfabrik” in der Reuchlinstraße 9. Später erfolgte eine Umfirmierung zu »Stuttgarter Karosseriewerk Reutter & Co.«, dem indirekten Vorgänger von »RECARO« und dem Lizenzgeber für »Reutter-Karosserie by Erlkönig Classic«. Ein weiterer Produktionsstandort war nun in der Augustenstraße 82, unweit der Reuchlinstraße – beides nicht in Stuttgart-Feuerbach.
1935 zog die von Friedrich Reutter gegründete Firma in die Borsigstraße 5 nach Stuttgart-Feuerbach um und blieb dort bis zu ihrer Schließung in den 1970er Jahren.
Aus den Firmengeschichten und den detaillierten Angaben zu den Produktionsstandorten geht hervor, dass das »Stuttgarter Karosseriewerk Reutter und Co.” nie in Feuerbach ansässig war, weshalb die Behauptung, Iwan Nikitenko sei in der Vorgängerfirma von »RECARO« zur Arbeit gezwungen worden, völlig zurecht angezweifelt werden kann. Der spätere Produktionsstandort Zuffenhausen war allerdings nur wenige Kilometer von Stuttgart-Feuerbach entfernt.

Herzlichen Dank an Frank Jung für die wichtigen Hinweise!

Autor: Jonas Metten (Wissenschaftliche Hilfskraft Gräberfeld X-Projekt)