Setrak Semjonowitsch Awedisjan

Portraitfoto
Alter:
39 Jahre
Namensschreibweisen:
Setrak Semjonowitsch Awedisjan (Quelle: OBD Memorial)

Setrak Awetisjan (OBD Memorial), Awedesanan Setzra (Leichenbuch)
Geburtsort:
Chando (..1904)
Todesort:
Tübingen /Lazarett (22.11.1943) (Quelle: Leichenbuch)
Todesursache:
Lungentuberkulose (Quelle: Leichenbuch)
Nationalität:
Armenien (Quelle: OBD Memorial)
Zuordnung:
Kriegsgefangene
Ort der Gefangennahme:
Krim (08.05.1942)

Setrak Semjonowitsch Awedisjan wurde im Jahr 1904 in der kleinen Gemeinde Chando, im Gebiet Achalkalaki geboren. Das liegt heute im Südwesten Georgiens rund 50 Kilometer entfernt von der türkischen Grenze. Sein genaues Geburtsdatum ist uns unbekannt. Als Nationalität wurde auf seiner von der Wehrmacht angelegten Personalkarte 1 »armenisch« vermerkt und seine Religionszugehörigkeit wird als »orthodox« angegeben.
Vor dem Krieg arbeitete Awedisjan im landwirtschaftlichen Bereich. Zivilberuf und Religionszugehörigkeit sind charakteristisch für einen Großteil der 156 auf dem Gräberfeld X begrabenen sowjetischen Kriegsgefangenen. Awedisjan kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Soldat im 789. Infanterie-Regiment der Roten Armee.
Am 08. Mai 1942 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft, als die Wehrmacht einen Angriff auf die Krim startete und dabei etwa 169.000 Rotarmisten gefangen nahm. Der Angriff war Teil der Vorbereitung für die geplante Großoffensive auf Sewastopol. 19 der um Kertsch gefangengenommen Rotarmisten liegen auf dem Gräberfeld X begraben.

Odyssee der Verlegungen und Zwangsarbeit bei den Lonza-Werken

Fotografie der Lonza-Fabrik in Waldshut Tiengen aus dem Jahr 1955. (Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg)

In Deutschland angekommen, begann für Setrak Awedisjan eine Odyssee der Verlegungen. Insgesamt wurde er zwölf Mal im Zeitraum von etwa einem Jahr und drei Monaten verlegt.  Er wurde zunächst ins Stammlager Villingen gebracht. Danach wurde er ins Lager Malschbach transportiert und dann zu Arbeiten in den Lonza-Werken, einem Schweizer Chemiekonzern, in Waldshut-Tiengen gezwungen. Auch Unternehmen aus der Schweiz mit Niederlassungen in Deutschland profitierten also von dem weitverbreiteten Einsatz von Zwangsarbeiter*innen während des Nationalsozialismus. Die große Fabrik in Waldshut-Tiengen existiert seit 1993 nicht mehr, das Unternehmen besteht weiterhin als Lonza Group AG mit ganz unterschiedlichen Tätitgkeitsfeldern.
Auf die kurzen Arbeitseinsätze, sogenannte »Arbeitskommandos«, folgten für Setrak Awedisjan jedes Mal Lazarettaufenthalte. Nach den vermutlich mehr oder weniger erfolgreichen Genesungen kam er zurück in ein Stammlager, um dann wieder Zwangsarbeit in den Lonza-Werken verrichten zu müssen. Diese Prozedur wiederholte sich viermal, wenn auch mit unterschiedlichen Lazaretten und Stammlagern als Zwischenstationen. Insgesamt legte Awedisjan, nach seiner Ankunft in Süddeutschland und inklusive der letzten Verlegung ins Tübinger Lazarett, eine Strecke von rund 965 Kilometern Luftlinie zurück. Die Zeitspannen, in denen er die Zwangsarbeiten bei den Lonza-Werken schaffte, wurden im Verlauf seiner Kriegsgefangenschaft immer kürzer; insgesamt arbeitete er dort nur rund 14 Wochen.
Die Lazarett- und Lageraufenthalte wurden dagegen immer länger und belaufen sich zusammengerechnet auf etwa 44 Wochen, also 11 Monate.
Die enorme Anzahl an Verlegungen in einer nur so geringen Zeitspanne ist nicht unbedingt repräsentativ für alle sowjetischen Kriegsgefangenen. Beides zeigt aber eine umfassende Mobilisierung der Kriegsgefangenen in Deutschland und die schonungslose Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Die vielen Verlegungen von Setrak Awedisjan widerlegen das Vorurteil, dass Kriegsgefangene bis zu ihrem Tod an einem Ort festgehalten wurden.

Unmenschliche Behandlung, Krankheit und Tod

Während seiner Gefangenschaft und Zwangsarbeit erkrankte Setrak Awedisjan an Lungentuberkulose. Sie war eine der häufigsten Todesursachen der sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Mangelkrankheit resultierte aus der katastrophalen Versorgung und Unterbringung der Gefangenen aus der Sowjetunion bei gleichzeitiger Verrichtung schwerster Zwangsarbeiten unter ebensolchen Bedingungen.
Anders als zum Beispiel bei Kriegsgefangenen aus Frankreich, hielt sich die Wehrmacht an keinerlei Regeln bei der Versorgung von sowjetischen Kriegsgefangenen. Mit der menschenunwürdigen Behandlung der gefangenen Rotarmisten verstießen die Deutschen gegen das geltende Kriegsvölkerrecht. Die darin festgelegten Regeln taten die Nationalsozialisten als liberale Erfindung ab und deklarierten den Krieg gegen die Sowjetunion als Kampf der Weltanschauungen. Die grausame Behandlung der Rotarmisten wurde noch weiter mit der nationalsozialistischen Ideologie vom »slawischen Untermenschen« rassenbiologisch begründet. So waren die sowjetischen Gefangenen der Wehrmacht schutzlos ausgeliefert.
Setrak Awedisjan starb am 22. November 1943, im Alter von 38 oder 39 Jahren, an Lungentuberkulose im Kriegsgefangenen-Lazarett in Tübingen. Seine Leiche wurde noch am selben Tag der Anatomie Tübingen überführt.

Nach dem Tod

In der Anatomie diente die Leiche Awedisjans aber erst viel später in einem Operationskurs als sogenannte „Nervenleiche“. Auf den ersten Blick ist der Zeitpunkt der Verwendung auffällig und sogar erschreckend, denn der Kurs fand erst im Sommersemester 1946 statt, also bereits nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Das war allerdings keine Ausnahme: Einige der Leichen sowjetischer Kriegsgefangener und die aus ihnen gewonnenen Präparate wurden erst in den Nachkriegsjahren in der Lehre verwendet.

Bronzetafel mit falschem Namen auf dem Gräberfeld X.

Auch nach dem Begräbnis seiner Leiche auf dem Gräberfeld X war die unwürdige Behandlung für Sedrak Awedisjan noch nicht vorbei, denn jahrzehntelang wurde sein Name falsch geschrieben. Auf einer der 1980 auf dem Gräberfeld niedergelegten Bronzetafeln wurde dauerhaft »Setzra Awedesanan« festgehalten. Auch im Gedenkbuch aus dem Jahr 2019, das fehlende Namen ergänzen und falsche Schreibweisen korrigieren sollte, wurde sein Name noch nicht verbessert; die inkorrekte Schreibweise fiel erst im Zuge des Forschungsprojektes auf.

 

Autor: Jonas Metten (Wissenschaftl. Hilfskraft Gräberfeld X-Projekt)