16.11.2023

Die Anatomie und ihre Toten

Von Jasmin Hopfer und Zhijun Xie

Am 18. April 1938 schickte der Tübinger Medizinstudent Kurt Gerstein einen Protestbrief an den Reichsinnenminister Wilhelm Frick. Er beklagte darin den pietätlosen Umgang mit den Toten, der in der Tübinger Anatomie damals herrschte. Wenig ist bis heute über den alltäglichen Betrieb in der Anatomie bekannt. Zeit, dies zu ändern.

Weg der Toten in die Anatomie

Wie kamen die Verstorbenen überhaupt in die Anatomie? Das Institut holte die Leichen nicht selbst ab, sondern beauftragte einen Tübinger Fuhrunternehmer mit dem Transport. Bis Mitte 1941 steuerte er Orte in ganz Württemberg an, um jeweils einen dort Verstorbenen in die Anatomie zu bringen. Es waren die mittelos verstorbenen Ortsarmen, die er mit nach Tübingen nahm – immer in demselben Sarg, wie Kurt Gerstein berichtete. Seit 1942 aber veränderten sich die Routen des Fuhrunternehmens. Woran lag dies? Einen Hinweis lieferte der Tübinger Anatomiedirektor Robert Wetzel Ende April 1942:

Es mehren sich die Fälle, in denen Leichen, die der Anatomie Tübingen zur Verfügung stünden, nicht abgeholt werden können, weil unser Fahrer Enssle nicht genügend Brennstoff hat. Nach dem die vorklinische und überhaupt die medizinische Ausbildung an der Universität Tübingen, allgemein im Rahmen der kriegsnotwendigen Ärzteausbildung […] von Semester zu Semester wächst […], muss jede verfügbare Leiche im Interesse der ärztlichen Ausbildung angenommen und verwertet werden. Ich bitte deshalb, bei der Treibstoffzuteilung an Enssle allein den Bedarf der Anatomie mit monatlich 3 – 4 Flaschen Treibgas (für Fahrten von etwa 1200 km) einzurechnen.

Der Treibstoffmangel war aber nur ein Grund, denn seit 1933 wurden unliebsame Personen verstärkt in »Arbeitshäuser«, Gefängnisse oder staatliche Psychiatrien eingewiesen. Hinrichtungen fanden überdies seit 1936 nicht mehr an verschiedenen Orten im Land statt, sondern ausschließlich in der »zentralen Hinrichtungsstätte« in Stuttgart.

Hatte sich Kurt Gerstein 1938 noch darüber beklagt, dass im Leichenwagen immer derselbe Sarg Verwendung fand, verschlechterte sich die Situation, als der Fahrer 1941 zu Sammeltransporten von Leichen übergehen konnte. Möglich wurde dies, weil in den Kriegsgefangenenlagern und Lazaretten viele Menschen in kurzer Zeit zugrunde gingen und weil die NS-Justiz nun tausende Todesurteile verhängte und sie im Dreiminutentakt vollstrecken ließ.

Umgang mit den Toten in der Anatomie

Nicht alle Verstorbenen, die in die Anatomie kamen, blieben dort. Immer wieder misslang die Konservierung der Körper, etwa bei Menschen, die sich ertränkt hatten oder die erschossen worden waren. Manchmal konnten Verwandte überdies doch noch die notwendigen Mittel für eine Beerdigung aufbringen. In diesem Fall wurden die Toten von der Anatomie »freigegeben«. Während des Zweiten Weltkrieges kam das Auslösen von Verstorbenen durch Verwandte immer seltener vor, zumal die meisten Toten nun aus Osteuropa stammten oder von der NS-Justiz hingerichtet worden waren. Bis 1941 hatten die Anatomen Wert darauf gelegt, die Todesursache und die Identität der Toten zu klären. Bei den Kriegsgefangenen wurde dieses Verfahren nicht eingehalten.

Die Toten wurden durch die Injektion einer Lösung aus Alkohol, Carbol und Formalin haltbar gemacht. Jeweils mehrere Leichen kamen in »Kisten«, in denen sie in der Regel zwei Jahre verblieben, bevor sie ihrer Verwendung zugeführt wurden. Die allermeisten Leichen verwendeten die Anatomen für Präparier- und OP-Kurse, wenige für Forschungen und als Sammlungspräparate. Für die Anfertigung von Sammlungspräparaten konnten sich die Anatomen in der NS-Zeit sehr oft der Leichen von Hingerichteten bedienen. Der Umgang mit den Leichen war in den Kursen wenig pfleglich, wie aus dem Bericht von Kurt Gerstein hervorgeht.

Rüde Studenten einer vergangenen Zeit haben gelegentlich den Ernst dieser Lage verkannt und die ihnen anvertrauten Präparate – in Bierlaune, aus Pietätlosigkeit oder um sich interessant zu machen – nicht zu treuen, sondern zu unwürdigen Händen genommen. Gerade den Selbstmördern steht die Verzweiflung ihres letzten Entschlusses und die Bitterkeit noch im Gesicht. — Ferner spukt im Volksdenken noch die unwürdige Vorstellung herum, als ob man seinen eigenen Leichnam oder gar den anderen Menschen verkaufen könnte.

Nicht nur Studenten, auch das Personal legte wenig Wert auf die Würde des Menschen. Leichenreste, so forderte Gerstein, sollten künftig individuell in Drahtkörben gesammelt und in einem eigenen Präparierflüssigkeitsbecken aufbewahrt werden.

Weg der Toten aus der Anatomie

Nicht alle Toten wurden vollständig bestattet. Es gab Skelettverkäufe und Verkäufe von mikroskopischen Präparaten. Im Universitätsarchiv Tübingen findet sich ein Briefwechsel zwischen Robert Wetzel und seinem Vetter Glatzel, der als Arzt in der Heil- und Pflegeanstalt Christophsbad arbeitete. Er wollte gerne ein Skelett erst für sich selbst kaufen und später eines für den Unterricht des Personals seiner Heilanstalt. Solche Anfragen an die Anatomie waren nicht ungewöhnlich, zumal dem Anatomiediener das Recht zustand, von ihm präparierte Skelette weiterzuverkaufen. Den Verkauf mikroskopischer Präparate regelte die Anatomie am 28. Oktober 1936. Für ein einzelnes Präparat wurde ein Betrag von 1 RM veranschlagt. Besonders wertvolle Präparate, zum Beispiel Weichteile, kosteten 2 RM. Beim Erwerb der mikroskopischen Präparate hatten allerdings die Studenten Vorrang. Im Kurs wurden 120 Präparate zu einem Preis von 100 RM an sie abgegeben. Die Leichen stellten in diesem Fall eine ökonomische Ressource für die Anatomie dar.

Wie mit den restlichen Leichen umgegangen wurde, zeigte wiederum der Brief Kurt Gersteins. Er forderte in seinem Bericht, dass jede Leiche einen eigenen Sarg bekommen sollte, da in dieser Zeit in einem Sarg Hunderte Teile von Menschen pietätlos zum Friedhof transportiert und ebenso pietätlos beigesetzt wurden. Das Gräberfeld X beschrieb er mit folgenden Worten:

Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen, in dem ich auf einem im Betrieb befindlichen Anatomiefriedhof in wenigen Minuten mehrere Hände voll menschlicher Knochen, (Schädelplatten, Fingerknöchel, Gelenkknochen, ein komplettes os sacrum, Beckenschaufeln und ähnliches) aufgelesen habe. Die »Gräber« sind hier einfache, mit vielen bis zur Oberfläche durchdringenden Knochen gespickte »Dreckshaufen«, ohne Blumen oder irgendwelche gärtnerische Pflege. Die Menschen werden hier weit pietätloser verscharrt, als ein Hund.

Die Bewohner, welche neben dem Stadtfriedhof wohnten, beschwerten sich über die Geruchsbelästigung durch die konservierten Leichenteile. Die für die Konservierung verwendeten Chemikalien weisen einen stechenden Geruch auf, welcher für die Anwohner vor allem im Sommer nicht angenehm war. Sie fanden bei Bürgermeister Ernst Weinmann Gehör, der 1937 noch auf ein zweites Problem aufmerksam machte: Durch die lange Verwesungsdauer der konservierten Leichenteile entstand auf dem Gräberfeld X ein Platzproblem. Deshalb kam es 1939 zu der Vereinbarung zwischen dem Anatomischen Institut der Universität Tübingen und der Städtischen Friedhofsverwaltung Reutlingen, die Leichenteile aus Tübingen im Krematorium Reutlingen zu kremieren. In dem Vertrag zur Einäscherung der Leichen steht geschrieben, dass das Anatomische Institut Tübingen jeweils mindestens vier Leichen beim Krematorium abliefern konnte. Die Asche wurde laut Vertrag in »Holzkistchen, Stoff- oder Papiersäckchen« an die Anatomie zurückgegeben, um auf dem Gräberfeld X bestattet zu werden.

Auch nach Kriegsende war die Anatomie noch im Besitz von Köpern, die von NS-Opfern stammten. Sie wurden weiterhin zu Lehrzwecken verwendet und dann bestattet. Die aus Körperteilen angefertigten Präparate verblieben jedoch noch viel länger in der anatomischen Sammlung. Im Jahre 1988/89 beschwerten sich Medizinstudenten, dass sie noch mit Präparaten aus dem Nationalsozialismus ausgebildet würden. Deswegen wurde eine unabhängige Kommission eingesetzt, welche sämtliche medizinische Sammlungen der Universität überprüfte. 1990 wurden Präparate von möglichen Opfern des Nationalsozialismus, wie von der Kommission empfohlen, auf dem Gräberfeld X beigesetzt.