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Tagung Kriegsgefangenschaft: Russische und sowjetische Erfahrung im 20. Jahrhundert

Fragestellung

Welche Erfahrungen machten Kriegsgefangene? Wie wirkten sich Erfahrungen aus vorangegangenen Kriegen auf die Erwartungen und das Verhalten von Soldaten in späteren Kriegen aus? Wie gingen Kriegsgefangene mit dem Verlust ihrer Freiheit um, welche Handlungsoptionen standen ihnen offen, welche erkämpften sie sich? Dies waren die zentralen Fragen, die Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, Russland, der Ukraine, Serbien und Australien auf der Tagung »Kriegsgefangenschaft: Russische und sowjetische Erfahrungen im 20. Jahrhundert« am 1. und 2. Juli 2021 diskutierten.

Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg

Auf die Verbindungen zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ging Mark Edele in seiner Keynote ein. Auch im Ersten Weltkrieg wurden die russischen Kriegsgefangenen in Deutschland nicht besonders gut behandelt. Im Zweiten Weltkrieg machte die Führung der Roten Armee ihren Soldaten sehr deutlich, dass Armee- und Staatsführung Kriegsgefangenschaft nicht nur als Verrat an der Sowjetunion werten würden, sondern dass die Rotarmisten grauenhafte Zustände in deutscher Gefangenschaft zu erwarten hätten. Dennoch kam es selbst in späten Kriegsjahren noch zu Desertionen sowjetischer Soldaten. Edele erklärte dies mit dem Wirken jener sowjetischen Soldaten, die bereits im Ersten Weltkrieg in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen waren. Denn im Rückblick stellte sich diese Erfahrung als gar nicht so negativ dar, was sie auch ihren Kameraden nicht verschwiegen. Wie ist das zu erklären? Laut Edele spielte der Bürgerkrieg, in dem sich nach der Oktoberrevolution »Weiße« und »Rote« gnadenlos bekämpften, eine entscheidende Rolle.

Anregungen für das Projekt Gräberfeld X

Gleich mehrere Beiträge machten deutlich, dass sich der Komplex der sowjetischen Kriegsgefangenschaft keineswegs nur auf die Gebiete der beiden Hauptkriegsgegner beschränkte. Sowjetische Soldaten waren auch in mit dem deutschen Reich verbündeten Staaten wie Italien, aber auch besetzten Ländern wie Norwegen und Jugoslawien interniert, wie Aleksandar Životić (Belgrad) und Maksim Batšev (Moskau) ausführten. Für unser Projekt ergibt sich daraus die Frage, wie dort mit verstorbenen Kriegsgefangenen umgegangen wurde. Kamen dort oder in Ungarn, Rumänien oder Bulgarien auch verstorbene Rotarmisten in anatomische Institute? Auf ein geographisch noch weiter entferntes, aber für unsere Fragestellung sehr naheliegendes Land ging Takuma Melber (Heidelberg) ein, der das Schicksal russischer Gefangener in Japan vorstellte. Seine Beispiele stammten jedoch aus dem russisch-japanischen Krieg von 1904/1905, als sich Japan noch um eine sehr humane Behandlung der Kriegsgefangenen bemühte – sogar das Kaiserpaar stattete damals einem Lager einen Besuch ab. Im Zweiten Weltkrieg behandelten die Japaner ihre Gefangenen dann ähnlich rücksichtslos wie die Deutschen die ihren. Als weiterer für unsere Arbeit relevanter Aspekt wurde über die sogenannten »Aussonderungen« diskutiert. Olga Radčenko (Čerkassi) berichtete über die Erfahrungen sowjetischer Kriegsgefangener auf dem Gebiet der Ukraine. Dort entließ die Wehrmacht 1942 kranke Rotarmisten aus der Kriegsgefangenschaft. Dass dies nicht unbedingt ein Akt der Milde bedeuten musste, wurde in der Diskussion deutlich. Denn auch kranke Kriegsgefangene wurden von den Deutschen gezielt ermordet. Ist auch Gadimir Schicharow dieses Schicksal widerfahren? Er starb nur einen Monat nach seiner Gefangennahme im Lager Heuberg – und er war der einzige der auf dem Gräberfeld X bestatteten Rotarmisten, der krank in die Gefangenschaft geraten war.

Stefan Wannenwetsch ging in seinem Vortrag auf die Bedeutung toter Rotarmisten für die Anatomien ein. Foto: J. Metten.

Die Tagung, so sollte deutlich geworden sein, warf viele Fragen auf, die wir als Anregung für unsere weitere Arbeit nutzen können. Erfreulicherweise ist ein Sammelband der Veranstaltung geplant. Unser Dank gilt schon jetzt den Organisatorinnen Tanja Penter (Uni Heidelberg), Esther Meier (DHI Moskau) und Heike Winkel (Volksbund)!